Entdeckungen im Kolosserbrief Teil 6: Kol. 1, 21-23

„12,5 kg in zwei Wochen!“ versprach die Werbung in der Zeitschrift, die ich gestern im Bus gelesen habe. Neben dem kurzen Text waren zwei großformatige Bikinifotos von (angeblich) derselben Frau abgedruckt mit dem berühmten vorher-nachher-Vergleich. Links (vorher!) sah man eine Dame, deren Bild als Bewerbungsfoto einer Sumo-Ringerin gedacht gewesen sein könnte, rechts daneben (nachher!) das potentielle Bewerbungsfoto einer Strandmode-Trägerin. Abgesehen davon, dass die vorher-nachher-Bilder eher einer Gewichtsreduzierung von 112,5 kg ähnelten, sollte der Leser (nein, Entschuldigung, die Leserin) in Erstaunen ersetzt werden, welches Wundermittel diese dramatische Veränderung von vorher zu jetzt bewirkt hat. Obwohl ein ausgeglichener Menschenverstand zu dem Schluss kommen sollte, dass 12,5 kg (ganz zu schweigen von den 112,5 kg) Gewichtsabnahme in zwei Wochen kaum realistisch, noch gesund sein können, funktioniert der „vorher-nachher-Vergleich“ noch immer hervorragend genug, so dass genügend Leser(innen) überteuerte und nutzlose Pulvertütchen kaufen, damit solche Werbung sich lohnt.

In Kolosser 1, 21-23 benutzt Paulus auch die rhetorische Strategie des vorher-nachher-Vergleiches, allerdings ist der Kontrast real existent und der beschriebene Unterschied erstaunlicher als jedes Abnehm-Wunder. Aber zuerst einmal zum Text:

Und euch, die ihr ehemals [vorher!] entfremdet und Feinde wart nach dem Verstand resultierend in bösen Werken, hat Christus aber jetzt [nachher!] versöhnt 22 in dem Leib seines Fleisches durch den Tod, um euch heilig und tadellos und unsträflich vor Ihn hinzustellen, 23 wenn ihr in der Tat im Glauben bleibt – fest gegründet und standhaft und ihr euch nicht abbringen lasst von der Hoffnung des Evangeliums, das ihr gehört habt, das in der ganzen Schöpfung unter dem Himmel gepredigt worden ist, dessen Botschafter ich, Paulus, geworden bin.

In Kolosser 1, 21 fängt Paulus einen neuen Satz an, der allerdings die Themen aus Kolosser 1, 9-20 bruchlos fort führt. Der überragende Gedanke im folgenden Text ist, dass Christus in den Gläubigen eine besondere Art der Versöhnung (Gr. apokatalassoo) mit Gott erreicht hat. Bereits im Vers 20 hat Paulus die „Versöhnung“ (dasselbe Griechische Wort apokatalassoo) erwähnt – dort im Sinn einer kosmischen Befriedung/ Unterwerfung aller Mächte unter sich, so dass die spezielle Versöhnung der Gläubigen nicht verhindert werden kann.

So wie die „Versöhnung“ in Vers 20 dazu diente, um die Vorrangstellung von Christus zu bewirken, wird auch die eigentliche, letztendlich tatsächliche Versöhnung in Vers 21 beschrieben, um wiederholt die Vorrangstellung des erhabenen Christus darzustellen, damit die Hoffnung der Gläubigen singulär und gänzlich auf Ihm ruht. Es ist die dramatische Veränderung von vorher zu jetzt, welche Christus als außergewöhnlichen und einmalig hoch erhobenen Retter da stehen lässt.

Die emotionalen Erfahrungen von Menschen im Moment des Glaubens sind vielfältig und reichen von tiefer emotionaler Berührung und einer Erfahrung übernatürlicher Liebe, Gnade, Vergebung, Freude oder Angenommen seins bis zu einem graduellen Wandel von Nicht-Glauben zum Glauben ohne dass die Person den Moment des Überganges datieren oder beschrieben kann. Völlig unabhängig, ob eine „Bekehrung“ zu Jesus als emotional eindrücklich oder emotionslos erfahren wurde, geschah im Moment des Glaubens eine radikaler Wandel in der Natur des Glaubenden.

21 Und euch, die ihr ehemals [vorher!] entfremdet und Feinde wart nach dem Verstand resultierend in bösen Werken…

Paulus beschreibt den Menschen vor seiner Hinwendung zu Jesus als „entfremdet“ und „Feind“ zu (nachher) „versöhnt“ und vor Gott stehend als „heilig, tadellos und unsträflich.“ Die Griechischen Worte apallotriooo („entfremdet“) exhthrous („Feind“) beschreiben ein desaströses Bild vom Zustand eines Menschen ohne Christus – die notwendige Übersetzung und Entfernung vom der Umwelt des ersten Jahrhunderts mildern leider den rhetorischen Effekt des katastrophal miserablen Zustandes, der hier beschrieben wird. „Entfremdet“ beschreibt ähnlich wie in zwischenmenschlichen Beziehungen den Bruch, die Bitterkeit und Unversöhnlichkeit von zwei Personen, deren Beziehung zu einem feindschaftlichen Zerbruch geführt hat. „Feind“ bedeutet aktive böswillige Antagonie, welche offen ausgelebt wird. In der Antike galt Pietät im Sinne einer Gottesfurcht (vielen Göttern gegenüber) als hohes moralisches Gut und das schlimmste Verbrechen war im Kontrast zum heutigen Verständnis nicht Mord, sondern Gottlosigkeit, also mangelnder Respekt gegenüber den Göttern. Wird jemand in der Antike als „Feind Gottes“ beschrieben, würden die Hörer in Horror und Atemlosigkeit zurück weichen, weil dies ein unsagbares Verbrechen darstellte und die Konsequenz der Götter auf Feindschaft ihnen gegenüber verheerend war und mehr als alles andere zu vermeiden galt. Paulus scheut in Kolosser 1, 21 nicht vor der „eindrucksvoll furchtbaren“ Beschreibung „Feind Gottes“ zurück. An anderer Stelle in der Paulinischen Korrespondenz wird Gott als Feind des nicht-glaubenden Menschen im Sinne seines gerechten Zornes gegenüber böswilligen Sündern beschrieben (Bsp. Rom. 5, 10), hier jedoch ist die Feindschaft des Menschen gegenüber Gott beschrieben (welche natürlich die reziproke Reaktion Gottes auf Feindschaft ihm gegenüber impliziert).

Nun versteht sich der durchschnittliche Westeuropäer trotz seines ausgeprägten Atheismus sicher nicht als Feind Gottes. Die allermeisten Menschen in Deutschland sind dem Glauben gegenüber apathisch, würden aber auf die Frage, ob sie „Feinde Gottes“ sind eine positive Antwort strikt ablehnen und Neutralität in Sachen Glaube behaupten. Gegenteilig, wie die meisten Nicht-Christen sich gern präsentieren wollen, sind sie im inneren nicht neutral gegenüber Gott. Sie sind im inneren nicht neutral gegenüber ihrem Schöpfer, sondern wenn das Herz mit dem heiligen Gott und seiner unangefochtenen Vorrangstellung konfrontiert wird, dominieren Wut und Rebellion das Herz. Der Allmächtige hat als unser Schöpfer rechtmäßigen Anspruch auf Loyalität und Hingabe unsererseits Ihm gegenüber – eine „Schweizer“ Einstellung der Neutralität gegenüber Gott ist in Wirklichkeit nichts weiter als vertuschte Rebellion. Gott nicht zu kennen (das eigentliche Problem ist: Gott nicht kennen zu wollen) und „glückselige Ignoranz“ gegenüber Ihm ist in Wirklichkeit aktive Feindschaft dem Allmächtigen gegenüber.

Im Hinblick auf eine Sensibilität für den tragischen und horrenden Zustand eines Menschen, ein Feind Gottes zu sein, hat sich die moderne Gesellschaft im Vergleich zum Altertum nicht höher entwickelt, sondern hat sich im Bezug der Realitätswahrnehmung verschlechtert. Ein Feind Gottes zu sein wird (wenn überhaupt) als ein kleineres Übel im Vergleich zu anderen Problemen des persönlichen Wohlergehens angesehen. Wer das Verständnis des Altertums auf „Gottesfeindschaft“ als antiquarisch und überholt bewertet, hat dabei kein höheres Moral- oder Realitätsbewusstsein, hat sich nicht weiter entwickelt, sondern hat sich moralisch in einer Arroganz der Zeit1 zurück entwickelt und ist realitätsferner als die Menschen im Altertum.

Dem Verständnis dafür, wie großartig Christus ist und wie einzigartig Sein Werk am Kreuz, welches den Unterschied zwischen „Feind Gottes“ und „versöhnt“ (vorher-nachher) macht, geht ein Verständnis des katastrophalen Zustand des Menschen vor seiner Hingabe zu Christus voraus.

Interessant zu beachten ist auch, dass Feindschaft gegenüber Gott laut Kol. 1, 20 in unseren Gedanken seinen Ursprung hat. Wie der Mensch ohne Christus denkt ist pervertiert, verzerrt und niederträchtig. Schlechtes Denken führt zwangsläufig zu schlechtem Verhalten. In unserer postmodernen und politisch korrekten Gesellschaft ist es gefährlich, Denken und Verhalten als böse zu beschreiben. Aber nichtsdestotrotz ist es genau das!

… hat Christus aber jetzt versöhnt 22 in dem Leib seines Fleisches durch den Tod, um euch heilig und tadellos und unsträflich vor Ihn hinzustellen,

Die glorreiche Veränderung vom Feind Gottes zu „versöhnt,“ „heilig,“ „tadellos“ ist nicht irgendetwas in uns zuzuschreiben, sondern einzig allein, was Christus für den Glaubenden am Kreuz getan hat. Einzig allein wunderbarer, rettender und souveränen Gnade ist es zu verdanken, dass abscheuliche Feinde Gottes ohne und entgegen jeglichen Verdienstes zu einer liebevollen Beziehung mit Gott gebracht wurden.

Der einzige und alleinige Grund, welche die Veränderung von Feind zu „Versöhnten“ bewirkt hat, ist darin zu finden, was Christus für seine Feinde getan hat („im Leib seines Fleisches durch den Tod“). Es hätte linguistisch völlig ausgereicht, um klar zu kommunizieren, wenn Paulus nur geschrieben hätte „versöhnt im Leib“. Damit wäre vom Kontext her selbstverständlich gewesen, dass das stellvertretende Opfer von Jesus am Kreuz die Ursache und Mittel der Versöhnung war. Paulus fügt dem Wort Leib (Gr. sooma) aber noch im Genitiv das Wort Fleisch (Gr. sarx) hinzu. Diese „unnötige“ Dopplung von annäherungsweisen Synonymen (Leib/ Fleisch [Körper]) (Gr. sooma/ sarx) bewirkt jedoch einen rhetorischen Nachdruck. Zum einen macht sarx noch einmal ganz klar deutlich, dass es sich bei der Kreuzigung von Jesus um ein Opfer handelte (sarx ist stark mit dem Gedanken des stellvertretenden Opfers verbunden  – siehe z.B. Joh. 6, 51 & 1 Joh. 4, 2). Und zum anderen legt Paulus die Betonung durch das Dublieren der beiden Substantive noch einmal deutlich auf das Opfer von Jesus am Kreuz. Es ist so ähnlich wie wenn ich dem Wort „Macht“ noch „Gewalt“ hinzufüge, wenn ich schreiben möchte, dass die Macht und Gewalt Gottes etwas vollbracht hat. Auch hier akzentuiert Paulus wieder den Fokus des Kolosserbriefes: die gute Nachricht des Evangeliums ist, dass Christus und Sein Werk am Kreuz die Kolosser zu einem himmlischen Erbteil befähigt haben und dies Opfer allein ausreichend ist.

Durch den Zusatz „durch den Tod“ erfährt der Gedanke des Opfers von Christus eine dreifache Betonung. „Leib“ (siehe z.B. Lukas 22, 19); „Fleisch“; Tod ist Rhetorik, die aussagt: es ist das Kreuz, das Kreuz, das Kreuz (!!!) welches den Unterschied gemacht hat und welches einzig und allein die ganze Hoffnung der Kolosser auf das Erbe des Himmels ist.

Eine weitere Verdreifachung für den rhetorischen Effekt der Betonung finden wir auch bei der Beschreibung des glorreichen Zustandes in welchen die Glaubenden durch das Kreuz Christi versetzt wurden: heilig, tadellos, unsträflich. Auch hier hätte es völlig ausgereicht, nur „heilig“ zu schreiben – das Wort bringt aus dem Alten Testament genügend sprachliche Wucht mit sich, um allein eindrucksvoll zu sein: für den besonderen und einzigartigen Gott abgesondert und für außergewöhnliche Zwecke in moralisch perfekten Zustand versetzt worden zu sein ist an sich unglaublich kostbar. Paulus will aber den gigantischen Zustand, in welchen Christus uns gebracht hat emotional adäquat eindrücklich beschreiben, indem er noch „tadellos“ und „unsträflich“ hinzufügt. Auch hier leidet leider die Deutsche Übersetzung, den Effekt des Paulus imposant zu vermitteln den im griechischen beginnen alle drei Adjektive mit einem Alpha (Gr. [h]agios, amoomous, anegkleetous). Dieses literarische Stilmittel nennt man Alliteration – es ist wie ein Reim, allerdings reimen sich hier der Anfang der Wort und nicht die Endung und es führt dazu, dass (bildlich gesprochen) alle Register der Orgel gezogen sind und mit allen Pauken und Trompeten der Höhepunkt erreicht ist: Christus hat die Seinen in einen unbeschreiblich gewaltigen und faszinierenden Zustand versetzt!!!

Was genau beschreibt Paulus mit „heilig“, „tadellos“ und „unsträflich“? Die Worte „heilig“ und „tadellos“ können sowohl den Zustand des Menschen in diesem Leben (hagios z.B. in Röm. 12, 1; amoomous z.B. in Phil. 2, 15) oder den perfekten Zustand in der Ewigkeit (hagios z.B. in Eph. 1, 4; amoomous z.B. in Eph. 5, 27) beschreiben. Das Wort anegkleetous hat jedoch ausgeprägte rechtliche Nuancen, es ist ein Wort aus der Gerichtssprache und bedeutet „frei von Anschuldigung“ und zieht deshalb die Bedeutung der Triade „heilig“, „tadellos“ und „unsträflich“ in die Bedeutung dass hier der perfekte Zustand des Gläubigen beschrieben wird, wenn er vor dem Angesicht Gottes steht. Der Zusatz „vor Ihn“ (Gr. katenoopion autou) sichert diesen Sinn, denn es ist eine Bezeichnung des Stehens vor Gott als Richter – also im Sinne von „vor seinem Richterstuhl stehen“ (siehe z.B. 2 Tim. 4, 1). Paulus drückt also mit dem Resultat dessen, was Christus erreicht hat, den genialen, perfekten und makellosen Zustand aus, welchen wir vor Gott genießen werden, wenn wir in der Ewigkeit in Seiner manifesten Gegenwart leben werden.

…wenn ihr in der Tat im Glauben bleibt – fest gegründet und standhaft und ihr euch nicht abbringen lasst von der Hoffnung des Evangeliums, das ihr gehört habt, das in der ganzen Schöpfung unter dem Himmel gepredigt worden ist, dessen Botschafter ich, Paulus, geworden bin.

Im Vers 23 stellt Paulus eine eindeutige Bedingung auf, welche notwendig ist, damit der Glaubende die unvorstellbare Freude des Erlebens der Gegenwart Gottes im Himmel erleben kann: der Christ muss weiterhin der Lehre des Evangeliums treu bleiben. „Im Glauben bleiben“ (Gr. epimeneo tee pistei) bezeichnet hier nicht das persönliche Vertrauen in Christus sondern beschreibt den theologischen Inhalt des Christlichen Glaubens (Bsp. Gal. 1, 23). Es geht Paulus an dieser Stelle nicht darum, wie stark das Vertrauen in Christus ist, sondern dass die Kolosser dem Inhalt des Evangeliums treu bleiben – denn dies ist ja die Hauptrichtung, in welche sich der ganze Kolosserbrief richtet (Bsp. 2, 1-9).

Paulus sagt also ziemlich klar, dass wer nicht inhaltlich dem wahren Evangelium treu bleibt, auch nicht heilig, tadellos und unsträflich vor Gott präsentiert wird, sondern als Feind Gottes unter seinem gerechten Zorn vor Ihm erscheint.

Bevor ich den Text weiter kommentiere, möchte ich allerdings voranstellen, was der Vers theologisch leisten kann und was nicht. Der Text hilft bei der Calvinistisch-Arministischen Debatte nicht, eine Wertung herbeizuführen, ob ein Christ eine vormals erhaltene Rettung verlieren kann oder nicht. Ich habe meine eigene theologische Position dazu schon hier Preis gegeben und werde an dieser Stelle die Diskussion nicht aufgreifen. Nur so viel: Sowohl der Calvinist als auch der Aminianer glaubt, dass Festhalten am Glauben eine notwendige Voraussetzung für ewiges Leben im Paradies ist. Arminianische Theologie vertritt die Position, dass ein einstmalig echter wiedergeborener, von Schuld frei gesprochener, vor Gott gerechtfertigter Christ seine Rettung für immer verlieren kann, wenn er vom Glauben abfällt. Errettung, die man einmal erhalten hat, kann verwirkt werden und für immer verloren sein, wenn Glaube verloren geht. Der Calvinist glaubt, dass alle Auserwählten letztendlich im Glauben bleiben werden und entsprechend ewig gerettet werden. Aushalten am echten Glauben ist demnach ein Anzeichen eines authentischen Vertrauens in Christus. Gott selbst ist der ultimative Garant dafür, dass diejenigen, die zu Christus durch eine Bekehrung zu Ihm gehören, auch bei Christus bleiben. Gemäß dieser theologischen Überzeugung bewahrt Gott den Christen im Glauben und er tut es  indem er das Herz des Glaubenden willig macht, im Glauben zu bleiben – dies wird unter anderem durch die Warnung, welche implizit in der Bedingung von Kol. 1, 23 enthalten ist, bewirkt. In anderen Worten, die Warnung „kein dran bleiben, keine ewige Rettung“ ist eins von Gottes Mitteln, wie er das Herz der Auserwählten formt, um eine Willigkeit des „dran bleiben“ zu bewirken. Dabei ist es jedoch nicht ultimativ die Entscheidung des Christen, welches die Bewahrung im Glauben bewirkt, sondern es ist die unwiderrufliche, unwiderstehliche Gnade Gottes und Sein Souveränes Wirken, welche ein Festhalten im Glauben garantiert.

Kolosser 1, 23 hilft jedoch nicht gewichtig, den theologischen Diskurs zu entscheiden, allenfalls gibt es eventuell einen kleinen Hinweis. Paulus schreibt wörtlich nicht nur „wenn ihr im Glauben bleibt…“ (Gr. ei epimenete tee pistei), sondern „wenn ihr in der Tat im Glauben bleibt“ (Gr. ei ge epimenete tee pistei). In Gal. 3, 21 scheint die Konstruktion ei ge kai eine Nuance des Zweifelns zu beinhalten, ei ge in 2 Kor. 5, 3; Eph. 3, 2 & 4, 21 scheint die Nuance von Zuversicht zuzufügen, also im Sinne, wenn ihr im Glauben bleibt – und dessen bin ich mir sicher. Angesichts dessen, dass Paulus ausdrücklich (und ausschließlich) im Kolosserbrief Zuversicht an der Treue der Kolosser ausdrückt (z.B. Kol. 2, 5) sollte wahrscheinlich auch 1, 23 als eine zuversichtliche, aber dennoch reale Bedingung interpretiert werden.

Es ist theologisch völlig legitim ist, Kolosser 1, 23 als sogenannte „Warnungspassage“ zu verwenden für Menschen die geneigt sind, inhaltlich vom Kern des Evangeliums in Irrlehre abzufallen oder für Menschen, die zwar ein mündliches Bekenntnis zum Glauben machen, jedoch mangelnde Bereitschaft der Lebensveränderung in die Werten des Neuen Testaments zeigen. Es ist legitim, weil der Vers inhaltlich allgemein gehalten wird und Implikationen für Lebensbereiche außerhalb derer hat, welche die Kolosser erfahren haben. Jedoch muss, damit man die Argumentation des Kolosserbriefes an sich versteht, beachtet werden, dass im sofortigen Umfeld Kolosser 1, 23 rhetorisch nicht als Warnung für mangelnde Heiligkeit funktioniert, sondern als Bestätigung echten Glaubens in der Glaubensunsicherheit der Kolosser!

Wir haben bereits hier gesehen, dass der Hintergrund der Kommunikation des Paulus an die Kolosser eine Zuversichtskrise war. Und zwar bezüglich der Echtheit der großartigen Versprechen Gottes, welche im Glauben allein an Christus allein erfüllt werden. Der Glaube der Kolosser ist echt und der Lebensstil der Christen vorbildlich (Kol. 1, 3-8). Paulus baut mit seiner Kondition in Kol. 1, 23 keine zusätzliche Hürde für die Kolosser ein, sondern der Vers funktioniert rhetorisch als Bestätigung des Glaubens, welchen die Kolosser von Epaphras gehört und nun von Paulus bestätigt bekommen. Die Kolosser wollen nicht vom Glauben abfallen, sondern sie fragen sich eher „reicht der Glaube für das Erbe des Himmels oder sollen wir noch…“. Auf diese Zuversichtskrise antwortet Paulus mit rhetorischer Finesse, dass der bisherige Glaube reicht, weil nur wer im bisherigen Glauben an Christus als Garant der Qualifikation für ewiges Erbe bleibt, auch die Qualifikation für ewiges Erbe besitzt. Die Intention der Kondition „wenn ihr bleibt“ funktioniert also weniger als Warnung, sondern als ein Zurück besinnen auf die wahren Versprechen des echten Evangeliums in Zeiten der Glaubenszweifel. Dies wird unter anderen dadurch deutlich, dass Paulus im zweiten Teilvers „euch nicht abbringen lasst von der Hoffnung des Evangeliums, das ihr gehört habt, das in der ganzen Schöpfung unter dem Himmel gepredigt worden ist, dessen Botschafter ich, Paulus, geworden bin“ die Themen der Bestätigung der Echtheit des Glaubens der Kolosser aus Kapitel 1, 3-8 wieder aufgreift.

Wer seine Erinnerung kurz hier wieder aufgefrischt hat, wird folgendes feststellen:

a) Paulus wählt bewusst „[wenn ihr euch] nicht abbringen lasst von der Hoffnung des Evangeliums“ anstelle von „[wenn ihr euch] nicht abbringen lasst vom Evangeliums“ oder ähnlichen Konstruktionen, um eine Brücke zurück zu Kol. 1, 5 zu schlagen „wegen der Hoffnung, die für euch in den Himmeln aufbewahrt ist.“ In 1, 5 ist die Hoffnung sicher, vertrauenswürdig und real und Paulus ermutigt auch in Kol. 1, 23, dass die ein Festhalten an den grandiosen Verheißungen in Zeiten der Unsicherheit richtig ist.

b) „…Evangelium, welches ihr gehört habt“ weist zurück zu Kolosser 1, 5 „von welcher ihr zuvor gehört habt im Wort der Wahrheit“ und dient dazu, die Hoffnung des Evangeliums, welches als Bedingung für letztendliche Rettung in 1, 23 dargestellt wird, mit der verlässlichen Botschaft der Wahrheit zu verknüpfen, welches die Kolosser von Epaphras gehört haben und jetzt als kongruent mit dem Evangelium des Apostels (des direkten Gesandten und Repräsentanten von Christus) dargestellt wird.

c) „…das in der ganzen Schöpfung unter dem Himmel gepredigt worden ist“ schlägt den Bogen zurück zu Kol. 1, 6 „das zu euch gekommen ist, wie es auch in der ganzen Welt ist und Frucht bringt und wächst“. Die inhaltliche Synonymität zeigt auch in 1, 23 erneut auf, dass die Botschaft, welche die Kolosser glauben, keine hinterwäldlerische Abwandlung von der eventuell unbekannten Offenbarung Gottes ist, sondern dass die Kolosser glauben, was Christen gleich mit ihnen weltweit glauben und dies damit inhaltlich den Glauben der Kolosser bestätigt.

d) „…dessen Botschafter ich, Paulus, geworden bin.“ ist die Brücke zurück zu Kol. 1, 7 „genau wie ihr es auch gelernt habt von Epaphras, unserem geliebten Mit-Sklaven, der ein treuer Botschaftsüberbringer des Christus für euch ist.“ Sowohl in 1, 7 als auch 1, 23 finden wir das Griechische Wort diakonos, in manchen Übersetzungen etwas ungünstig als „Diener“ übersetzt, in Kontext mit „Wahrheit“ oder „Information“, „Mitteilung“ einen Botschaftsüberbringer beschreibt. In 1, 7 ist es Ephaphras, der diakonos ist, in 1, 23 ist Paulus der diakonos. Diese bewusste Verbindung der Textpassagen führt erneut dazu, das Evangelium von Epaphras mit dem Evangelium von Paulus gleich zu stellen und seine Vertrauenswürdigkeit zu bestätigen.

Zusammenfassend: die „wenn ihr“-Kondition von Kol. 1, 23  hat also nicht den Effekt gehabt, dass die Kolosser sich, nachdem sie die Passage gelesen hatten, bangend um ihre letztendliche Rettung gesorgt haben, sondern der von Paulus beabsichtigte rhetorische Effekt war eine Bestätigung des Glaubens, den die Kolosser hatten, über deren Richtigkeit und Verlässlichkeit sie sich Sorgen gemacht hatten. Nachdem die Kolosser „wenn ihr in der Tat im Glauben bleibt…“ gelesen hatten, war ihre Reaktion nicht „…oh nein, hoffentlich falle ich nicht vom Glauben ab“, sondern „oh, ja wir glauben das richtige! – Oh ja, in Christus und seinem Werk am Kreuz allein haben wir Hoffnung auf ewiges Erbe und als Heilige vor Gott zu stehen“ Oh, ja; oh, ja; oh ja!

1 Als „Arroganz der Zeit“ versteht man eine pathologische Einstellung zum Wissen, der Moral, Lebenseinstellung und Erfahrungsschatz früherer Generationen. Man denkt dabei, dass man einzig allein, weil man später als vorhergehende Menschen lebt, schlauer und fortschrittlicher denkt und lebt. Das Problem der Arroganz der Zeit hat sich in der Westlichen Weltanschauung fest etabliert und ist zum Beispiel schon an linguistischen Wortbedeutungen erkennbar: archaisch, altmodisch, vorsintflutlich, altbacken sind negativ geprägte Worte. „Alt“ ist in unserem Verständnis überholt. Dies ist aber nicht in allen Kulturen so und ist außerdem ein neues Phänomen. In der Antike galt „alt“ als wertvoll, weil es von der Zeit geprüft als erhaltenswert galt. „Neu“ war im Altertum nicht automatisch besser, sondern ungeprüft und unzuverlässig. Deshalb hat man in der Antike, wenn es um politische, militärische, religiöse, ethische oder wirtschaftliche Entscheidung ging, immer zuerst betrachtet, was die Vorfahren darüber gedacht und wie sie im Hinblick darauf gehandelt haben. Heutzutage ist ein Rückblick auf vergangene Generationen grundsätzlich (!) als minderwertig verpönt. Diese grundsätzliche (!) Einstellung, dass altes generell minderwertig und neuartig generell höhenwertig ist, ist jedoch eine Fehleinschätzung; ein blind sein, Werte adäquat beurteilen zu können. Diesen Verlust aufgrund einer generellen Abneigung gegenüber altem zu ausgewogenen moralischen oder gesellschaftsrelevanten Entscheidungen treffen zu können ist der „Arroganz der Zeit“ zuzuschreiben.


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