Vorn ist hinten und hinten ist vorn?

Der Grabstein der Haterii zeigt einige Monumentalbauten Roms – links das Kolosseum, in der Mitte einen ein-bögigen Triumphbogen mit Quadriga auf dem Dach und rechts der Triumphbogen des Titus.

Die Familie Haterii hat sich etwa 100 nach Christus ein Mausoleum in Rom gebaut. Über Generationen waren sie Bauunternehmer. Und so verziert ein Relief, auf dem verschiedene monumentale Bauwerke abgebildet sind, ihre Grabstätte. Eines der abgebildeten Bauwerke ist ein Triumphbogen. Oben im Giebel des Triumphbogens sieht man einen Triumphator, also einen siegreichen Feldherrn, auf einer vierspännigen Kutsche reiten. Etwas in die rechte Ecke gequetscht, aber wichtiger Bestandteil der Geschichte, die mit dem Relief erzählt werden soll, ist ein weiterer Mann, der ebenso auf dem Streitwagen reitet und mit seiner rechten Hand einer Krone über den Kopf des Triumphators hält. Dieser Mann, der ein öffentlicher Sklave Roms ist, lüftet für uns ein großes Geheimnis. Was er tut, wird uns erklären, was Paulus meint, wenn der Apostel in seinem Brief an die Philipper schreibt „Ich vergesse, was dahinten, strecke mich aber aus nach dem, was vorn ist…“ (Phil. 3, 13).

Ein siegreicher Feldherr reitet zu seinem Triumphzug auf einer Quadriga mit Sklave, der Siegeskranz hält

Der Sklave auf dem Relief der Haterii, welches man heute im Kapitolinischen Museum Rom besichtigen kann, reitet mit einem römischen General in einem festlichen Triumphzug. Einen Triumphzug kennt jeder in der antiken Welt. Nachdem ein Römischer Feldherr einen überwältigenden Sieg über die Feinde Roms errungen hat, kann ihm als höchste Ehrung vom Senat ein Triumphzug zugesprochen werden. In diesem wird der General als Triumphator gefeiert. Selbst wer noch nie bei solch einem prächtigen Umzug, der nur in Rom selbst statt findet, dabei war, weiss genau was bei einem Triumphzug passiert. Noch lange nachdem der eigentliche Triumph vorbei ist, erinnern Münzprägungen und extra für die Propaganda des Triumphes gebauten Triumphbögen an das fulminante Ereignis.

Der Höhepunkt des Triumphzuges sind natürlich nicht die festlich gekleideten und bekränzten Soldaten, nicht die gefesselten und zur Schau gestellten Gefangenen, auch nicht die hergerichteten Opfertiere oder die Musiker, welche den Triumphzug anführen. Das Highlight ist natürlich der siegreiche Feldherr, der auf seinem von vier Pferden gezogenen Gespann an den jubelnden Massen vorbei fährt. Im Bild erkennt man gut die triumphale Pose, die der Feldherr einnimmt. In Purpur gekleidet, mit Insignien der Macht ausgestattet (im Bild sieht man ihn mit einem Szepter und einem Siegeskranz) steht der Triumphator in seiner Quadriga als wäre er ein Halbgott. Aber er steht nicht allein auf seinem zeremoniellen Streitwagen! Ein Sklave steht hinter ihm auf der Quadriga und hält dem Triumphator mit ausgestreckter Hand eine schwere Krone über den Kopf. Der Sklave ist jedoch weit mehr als nur „Goldkronenhalter“. Er hat eine weitere wichtige Funktion, denn er ruft die ganze Zeit während des Triumphes dem Feldherren auf Latein zu: Respice post te. Übersetzt heißt das „Schau zurück!“.

Tertullian beschreibt die Szene so: „Wenn der Kaiser in der Blüte seines Ruhmes in seinem Triumphwagen steht, wird er ermahnt, anzuerkennen dass er selbst nur ein Mensch ist, indem einer von hinten diese Worte spricht: ‚Schau zurück (Respice post te) und erinnere dich, dass du nur ein Mensch bist“… (Tertullian, Apologeticum 33).

Ein Sklave auf der Quadriga erklärt uns, was hinten und vorn ist.

Der Sklave hat also eine doppelte Funktion. Einerseits ehrt er den Triumphator, indem er ihm die mit Edelsteinen bestückte Goldkrone über den Kopf hält, andererseits spricht er aber Dinge über ihn aus, die den Triumphator auf den Boden der Tatsachen zurückbringen sollen und ihn davor bewahren sollen, hochmütig zu werden. Aber warum ruft der Sklave auf der Quadriga, dass der Triumphator zurück schauen soll? Glücklicherweise haben wir eine weitere Beschreibung dieser Römischen Tradition von Zonaras in den Fragmenten des Cassius Dio. Er erklärt uns den Brauch des Rufens „Schau zurück!“ indem er folgendes ausführt. „Ein öffentlicher Sklave aber fuhr mit dem Sieger im Wagen selbst, hielt ihm die Krone aus Edelsteinen, die in Gold gefasst waren, hin und sagte immer wieder zu ihm: ‚Sieh nach hinten‘ (Respice post te), das heißt: ‚Sieh auf das, was später kommt – auf die folgenden Lebensjahre – und sei nicht übermütig oder aufgeblasen durch dein gegenwärtiges Glück““ (Zon. Epi. VII.21. in Dio. Fragments VI.21).

Der Boscoreale Becher zeigt wie Tiberius seinen Triumph über die Germanen in der Quadriga feiert. Hinter ihm steht der Sklaven, der ihm die Krone hält.1

Der Sklave warnt also den Triumphator vor dem in der Antike als gefährlich angesehenen Übermut. Nach dem Hochmut kommt schnell der Fall… das wussten auch schon die alten Römer und Griechen. Der gegenwärtige Ruhm sollte dem Triumphator nicht zu sehr zu Kopf steigen, er soll daran denken, dass er nur ein Mensch ist, dem ein ungewisses Schicksal ereignen könnte. Schon morgen könnte er Besiegter sein und nicht mehr Sieger.

Warum zurück schauen, wenn man ausdrücken will, dass man die Zukunft bedenken soll?

Die Beschreibung dessen, was der Sklave sagt, ist einleuchtend. Aber eine Sache verwundert uns: Warum sagt der Sklave „Schau zurück“ (Respice post te), wenn der Triumphator eigentlich in die Zukunft schauen soll, wie Dio Cassius uns erklärt? Die Erklärung „er will damit sagen ‚Schau in die Zukunft’“ scheint mit den Worten des Sklaven „schau zurück“ nicht zusammen zu passen. Wir erwarten, dass der Sklave sagt „Schau nach vorn!“ – erst damit würde die Begründung passen „Schau in die Zukunft!“.

Der Sklave, der in den Abbildungen des Triumphes auf der Quadriga steht, macht uns auf eine kuriose Tatsache aufmerksam. In der Antike sagte man, wenn man ausdrücken wollte „Schau in die Zukunft!“ eben nicht „Schau nach vorn!“, sondern „Schau zurück!“. Ebenso, wenn jemand im ersten Jahrhundert seinem Mitmenschen raten wollte „Denk doch mal an die Vergangenheit!“, wäre derjenige nie auf den Gedanken gekommen zu sagen „Schau zurück!“, sondern hätte gesagt „Schau nach vorn!“. In der Antike ist also alles verdreht. Hinten ist vorn und vorn ist hinten!

Also nicht ganz. Was jedoch in der damaligen Zeit anders war als es heute ist, ist die Verknüpfung von räumlichem und zeitlichem Denken, wenn man die Adjektive „vorn“ bzw. „hinten“ benutzt. Und dies gilt für Latein genauso wie für Griechisch. Klar, wenn die Griechen sagen wollten, dass räumlich etwas vor ihnen liegt, dann sagten sie auch wie wir heute „Schau mal da vorn!“ und benutzen das Griechische Wort für „vorn“, nämlich emprosthen. Die Raum-Zeit-Korrelation in der Antike wurde jedoch anders gedacht und deshalb nutzte man emprosthen nicht für die Zukunft, sondern für die Vergangenheit. Das mag für uns wirr erscheinen, aber wahrscheinlich gibt es eine einfache logische Erklärung. Der moderne Mensch denkt seit der Aufklärung an die Zukunft als etwas, was vor ihm liegt, als etwas, was von der kompetenten Menschheit erobert werden kann. Die Menschen in der Antike dachten jedoch anders an die Zukunft. Sie hatten im Allgemeinen eine kürzere Lebenserwartung, waren anfälliger für Krankheiten und waren Naturkatastrophen und Kriegen zumeist schutzlos ausgeliefert. Sie sahen die Zukunft eher als etwas an, was die Menschen aus der Laune der Natur oder aus der Übellaunigkeit der Götter überrumpelte, also unerwartet von hinten kam. Nach altem Denkmuster konnte man die Vergangenheit „sehen“, weil man sie erlebt hatte: Sie lag vor einem. Aber die Zukunft war höchst ungewiss, sie lag unsichtbar hinter einem.

Jedes gute griechische Lexikon wird unterscheidet deshalb immer, ob die griechischen Worte für vorn oder hinten räumlich oder zeitlich gemeint sind. Emprosthen („vorn“) bedeutet räumlich „vor dir“, aber zeitlich „in der Vergangenheit“. Opisoo („hinten“) bedeutet, wenn man räumliche Beziehungen beschreiben will „hinten“, aber zeitlich beschreibt es die Zukunft!2

Was also meint Paulus, wenn er den Philippen schreibt „Ich vergesse, was dahinten, strecke mich aber aus nach dem, was vorn ist…“ (Phil. 3, 13)?

Intuitiv denken die meisten von uns, wenn Paulus schreibt „Ich vergesse, was hinten ist“ (Phil. 3, 13), dass Paulus etwas in der Vergangenheit vergisst. Wenn er „sich nach dem ausstreckt, was vorn ist, dann meint er damit, dass er zukunftsgerichtet denkt und handelt. Entweder denkt er nicht mehr an sein Versagen als Christenverfolger oder er vergisst bewusst seine bereits errungenen Erfolge. Er streckt sich aus nach der Wiederkunft von Christus oder dem, was er noch mit Gottes Hilfe erreichen will. Unsere Intuition täuscht uns jedoch an dieser Stelle.3 Die Worte „Ich vergesse was hinten (emprosthen) ist“, können sich nämlich überhaupt nicht auf Vergangenheit beziehen. Emprosthen bedeutet zeitlich im Griechisch des Neuen Testaments „zukünftig“! Wenn Paulus also schreibt „ich vergesse, was emprosthen ist“, kann er, wenn das Wort zeitlich verwendet, nur meinen „ich vergesse, was die Zukunft für mich in petto hat.“ Das macht nicht nur keinen Sinn, sondern widerspricht inhaltlich, was Paulus im Kontext explizit kurz danach ausführt: Er schaut zeitlich in die Zukunft in Vorfreude auf die Belohnung, nämlich seine Auferstehung (Phil. 3, 14)!

Die Lösung des scheinbaren Dilemmas ist ziemlich einfach. Erstens, Paulus schreibt „ich strecke mich aus nach dem (tois), was vorn ist.“ Die zwei deutschen Worte „nach dem“ wird im Griechischen mit nur einem Wort ausgedrückt: tois! Dieser direkte Artikel im Dativ kann entweder Neutrum („nach den Dingen, die vor mir liegen“) oder Maskulinum sein („nach den Menschen, die vor mir sind“). Wenn das Griechische tois maskulin ist, dann bedeutet es „nach denen, die vorn sind“ und diese Konstruktion ist eine in der antiken Literatur oft benutzte Redewendung für „die vorn befindlichen Feinde besiegen“.4

„Vorn und hinten“ verwendet Paulus in einem räumlichen Bild ohne zeitliche Korrelation!

Paulus hatte also nie im Sinn, die Worte „vorn“ und „hinten“ im zeitlichen Sinn zu verwenden, sondern er benutzt sie räumlich. Er vermittelt ein Bild, mit welchem er beschreibt, was sein Lebensmotto ist: er schaut im „Christlichen Kampf“ nicht nach hinten, sondern nach vorn. Der „Christliche Kampf“, den er mit einer Kriegsmetapher beschreibt, sind seine Anstrengungen, das Evangelium zu verbreiten. Diese militärische Bildersprache hatte Paulus bereits in der Hauptaufforderung an die Philipper verwendet: auch sie sollten „zusammen für den Glauben des Evangeliums kämpfen und sich nicht von den Feinden nicht einschüchtern lassen“ (Phil. 1, 28). Nun, in Philipper 3, beschreibt Paulus sein eigenes Leben als Vorbild dafür, wie er die Philipper in Phil. 1, 27-30 aufgefordert hat, zu leben. Er selbst schaut – in Militärsprache verpackt – wie in einem Schwertkampf zweier Armeen nach vorn: Zu den Menschen, die er mit dem Evangelium erreichen will. Vorn (emprosthen) sind schon wie in der Griechischen Übersetzung des Alten Testaments die Feinde im Kampf: „Die Kanaaniter werden vor (emprosthen) euch sein und ihr werdet durch das Schwer fallen (4 Mose 14, 43 LXX).

Altar des Römischen Soldaten Albinius Super. Der Römer hat einen orientalisch gekleideten Kriegsgegner, wahrscheinlich einen Parther, dazu gezwungen, sich zu ergeben (ausgedrückt durch das gebeugte Knie). Der Parther bittet nun mit ausgestreckter Hand um Gnade. Das Bild auf dem Altar illustriert gut, was Paulus in Philipper 3, 13 ausdrücken will: Die Augen im Kampf des Evangeliums auf den Feind gerichtet in der Hoffnung, dass „der Feind“ vom Evangelium erreicht wird und sich Christus und seiner Gnade unterwirft. LVR Landesmuseum Bonn.

Paulus benutzt vorn und hinten in Kombination mit Militärsprache im Philipperbrief.

Dass Paulus Militärmotive in Philipper 3, 13 benutzt wird durch mehrere Indizien deutlich. Der Vers beginnt mit der Anrede der Philipper als „Brüder“. Obwohl im religiösen Kontext Glaubensgeschwister auch als „Brüder“ bezeichnet werden, ist das Griechische Wort adelphos (wie auch im Lateinischen das Wort frater) die gewöhnliche Anrede von Soldaten. Das folgende Bild zeigt den Grabstein des Reitersoldaten Gaius Marius. Für besondere Verdienste hatte er verschiedene militärische Auszeichnungen erhalten, die auf seinem Grabstein zu sehen sind: Zwei Armreifen (armillae) und neun Zierscheiben (phalarae). Den Grabstein hat sein Freund errichten lassen. Er heisst Sextus Sempronius, hat einen anderen Nachnahmen als Gaius Marius und bezeichnet sich in der letzten Zeile der Inschrift als „Bruder“ (frater). Das Wort „Bruder“ ist offensichtlich ein Begriff aus der Militärsprache, welche die tiefe Verbundenheit zwischen „Waffenbrüdern“ ausdrückt.

Grabstein des Soldaten Gaius Marius von seinem Waffenbruder (Latein: frater) Sextus Sempronius errichtet. LVR Landesmuseum Bonn.

Aber auch viele andere Worte im unmittelbarer Umgebung von Philipper 3, 13 sind Militärsprache. Nachjagen (diookoo) in Phil 3, 12, ergreifen (katalambanoo) ebenso in Phil. 3, 12, Preise (brabaion) in Phil. 3, 14 sind allesamt Beschreibungen, die direkt aus der Kriegssprache entnommen sind.5

Nicht nach hinten schauen? Was ist denn hinten?

Nach vorn schauen beschreibt also gleichnishaft die Konzentration des Soldaten auf den Gegner, den er besiegen will. Die Realität, die Paulus damit beschreibt, ist seine zielstrebige Entschlossenheit, seine Mitmenschen mit dem Evangelium zu gewinnen. Aber was meint Paulus mit „vergesse, was hinten ist“? Auch dieser Teil des Satzes beschreibt ein typisch militärisches Bild. „Zurückschauen“ beschreibt einen Soldaten, der bereit ist, die Kampfformation zu verlassen, um zu fliehen. Römische Soldaten waren, wie Soldaten jeder Armee, keine herzlosen Kampfmaschinen, sondern menschliche Wesen mit einer Persönlichkeit, Hoffnungen, Träumen und Ängsten.

Das Wissen, wie Menschen unter dem Stress einer Schlacht reagieren, wurde in der römischen Militärausbildung genutzt, um den Soldaten in die Lage zu versetzen, so tapfer wie möglich zu sein und den ihm zugewiesenen Platz und die ihm zugewiesene Aufgabe trotz der extremen Emotionen nicht zu verlassen. Die Motivierung des Soldaten zu eiserner Disziplin spielte eine wichtige Rolle, um den römischen Streitkräften einen Vorteil gegenüber dem Feind zu verschaffen. Jedoch einfach anzunehmen, dass ein disziplinierter römischer Soldat trotz jahrelanger Übung mit stoischer Härte im Kampf kämpft, ist eine Fehlannahme. Das Schlachtfeld war ein Ort des Chaos, in welchem die Soldaten einem enormen Stress ausgesetzt waren. Soldaten, die Feinden mit tödlichen Waffen gegenüberstanden, waren extremen Emotionen ausgesetzt, vor allem der Angst. Die Einschüchterung durch den Feind und das Kampfgeschehen veranlasste den Soldaten natürlich dazu, über die Möglichkeit nachzudenken, sich umzudrehen und dem Stress des Kampfes zu entkommen.6

Genau diesen Impuls beschreibt Paulus, wenn er schreibt „ich vergesse, was hinten ist“. Hinten befindet sich die Möglichkeit, dem Stress des Kampfes zu entfliehen. Von der Bildersprache in die Realität übersetzt bedeutet das, dass Paulus die Möglichkeit bedacht hat, sich den ständigen Anfeindungen zu entziehen, welche die Verbreitung des Evangeliums mit sich brachte. Hinten ist ein gemütliches Leben, wo man den eigenen Glauben einfach für sich behält. Paulus hat über diese Option nachgedacht und sich bewusst entschieden, sie nicht zu nutzen.

Paulus als Vorbild für die Philipper und für uns.

Die heidnischen Mitmenschen der Philipper waren dem Evangelium nicht sehr tolerant eingestellt. Paulus wusste, dass die gläubigen Philipper Anfeindungen und Verfolgung ausgesetzt waren – auch sie mussten Feindschaft von Mitmenschen und Behörden ertragen, weil sie sich öffentlich zu Jesus bekannten (Phil. 1, 30). Wie lebt man nun als Christ, wenn man von Nachbarn, Verwandten und den staatlichen Organisationen aufgrund des Glaubens an Christus bedroht wird?

Diese Frage beschäftigte die Philipper und genau deshalb schrieb Paulus seinen Brief an sie. „Nicht einschüchtern lassen und wie in einem Kampf weiter die gute Nachricht von Christus verbreiten“ ist sein wichtigster Rat (Phil. 1, 27-30). Und damit er nicht nur mit schlauen Worten große Reden schwingt, zeigt Paulus, dass er selbst so lebt und als Vorbild dient (Phil. 3, 12-17). Wenn Paulus bedroht wird, wenn er Angst hat, versucht er nicht, seinem Auftrag als Apostel zu entfliehen. Er sucht nicht nach Wegen, wie er abhauen kann, um ein ruhiges und gemütliches Leben zu leben. Für Paulus ist das Leben inmitten der heidnischen Mitmenschen wie eine Art Kampf, den es zu gewinnen gilt. In diesem Kampf hat er seinen Blick nach vorn gerichtet. Vorn heisst hier räumlich nach vorn sehen – zu den bisherigen Feinden des Evangeliums. Vorn bedeutet für Paulus, dass er immer wieder nach Möglichkeiten sucht, das Evangelium an Menschen weiter zu geben – auch wenn diese es nicht gleich mögen.

Vorn (emprosthen) ist in der Antike räumlich vorn. Da wo die Leute sind, die noch Feinde des Evangeliums sind, aber von Paulus gewonnen werden wollen. Hinten (opisoo) ist räumlich hinten. Da, wo es die Möglichkeit gibt zu fliehen, die für Paulus aber keine Option ist. Der Sklave auf der Quadriga hat uns geholfen zu erkennen, was in altertümlichem Denken vorn und hinten ist.

Fußnoten

1 Ausgestellt im Louvre in Paris. Bildrechte erworben bei Agence Photographique, Réunion des musées nationaux Grand Palais.

2 LSJ, “ὀπίσω,” 1239: „I. of Place: backwards; II. of Time: hereafter“. Liddell-Scott führt auch noch die Begründung an: „Since the future was unseen and was therefore regarded as behind us, whereas the past is known and therefore before our eyes.“ Hermann Menge, Taschenwörterbuch Altgriechisch-Deutsch. Ed. Karl-Heinz Schäfer and Bernhard Zimmermann. Langenscheidts Taschenwörterbuch der Griechischen und Deutschen Sprache. Berlin: Langenscheidt, 1986, 316.; Franz Passow, Handwörterbuch der Griechischen Sprache. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993, I:902; II:497. Adolf Kaegi, Benselers Griechisch-Deutsches Wörterbuch. Leipzig, VEB Verlag Enzyklopädie, 1985, 562: „1. vom Orte… hinten; II. von der Zeit… später, in Zukunft.“ W. Gemoll und K. Vretska, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. München: Oldenburg Schulbuchverlag, 2012, 581: „1. örtlich… nach hinten, rückwärts; 2. zeitlich, nachher, in die Zukunft.“

3 Fast alle Kommentare machen denselben Fehler. Die meisten Exegeten gehen davon aus, dass die Adverbien emprosten und opisoo eine räumliche Bedeutung im analogen Kontext der sportlichen Wettkämpfe haben und übertragen die räumliche Analogie in eine zeitliche metaphorische Bedeutung, d. h., der Teil der Rennstrecke, den Paulus bereits zurückgelegt hat (opisoo), bezieht sich metaphorisch auf seine Erfolge oder Misserfolge in der zeitlichen Vergangenheit, während der Teil der Rennstrecke, der noch zurückgelegt werden muss (emprosthen), in der zeitlichen Zukunft liegt. Hier hat man sich vom modernen Sprachgefühl leiten lassen anstelle von guter Recherche, was die griechischen Worte bedeuten können und was nicht. Fragwürdig ist außerdem die Behauptung, dass Paulus im Philipperbrief eine Rennstrecke in der Rennbahn als zugrundeliegende Metapher wählt. Wer die Ausgrabungsstelle von Philippi besucht, wird vergeblich nach einer Rennbahn suchen. Philippi ist eine Römische Kolonie, Rennbahnen sind jedoch Bestandteil der Griechischen Kultur. Römer machen zwar auch Sport, doch sie boxen eher, kämpfen und führen Pferderennen durch. Laufen ist überhaupt nicht ihre Sache. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, warum Paulus an eine Römische Kolonie einen Brief mit einer griechischen Sportmetapher schreiben sollte. Es ist vielmehr offensichtlich, dass Paulus an die Militärkolonie mit Metaphern aus der Militärsprache schreibt. Siehe dazu Dierk Müller, Military Images in Paul’s Letter to the Philippians, https://repository.up.ac.za/handle/2263/40199.

4 W. Gemoll und K. Vretska, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. München: Oldenburg Schulbuchverlag, 2012, 284.

5 Siehe dazu Dierk Müller, Military Images in Paul’s Letter to the Philippians, https://repository.up.ac.za/handle/2263/40199.

6 Für „zurückschauen“ im Militärgeschehen siehe zum Beispiel Liv. XXVII.12.3. „Hannibal war von allen Seiten zurückgeschlagen worden und hatte keinen Ort, an dem er sich aufhalten oder auf den er als sicheren Rückzugsort zurückblicken konnte.“


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