Kann ein Christ seine Rettung verlieren? Sagt der Hebräerbrief wirklich ‚Ja‘ dazu?

In der Diskussion, ob ein Christ die von Gott geschenkte Rechtfertigung, das ewige Leben bzw. seine Rettung wieder verlieren kann, wird of auf den Hebräerbrief Bezug genommen. Der erhobene Zeigefinger mit der Erwähnung des bloßen Wortes „Hebräerbrief“ gilt allein schon wie ein Totschlagargument. Als ob es offensichtlich wäre, dass die Warnungen im Hebräerbrief deutlich machen, dass, wenn diese von Christen nicht befolgt werden, der Umkehrschluss folgerichtig sagt, dass Menschen ihre Rettung, die sie zu einem Zeitpunkt ihres Lebens besaßen, durch Nichtbeachtung dieser Warnungen verlieren werden.

Doch der Hebräerbrief sagt nichts von alledem aus. Ganz im Gegenteil. Selbst die Abschnitte der Warnungen enthalten deutliche Darstellungen, dass die Rettung eines Christen sicher ist und nicht verloren geht. Warnungen vor dem Abfallen vom Glauben gibt es im Hebräerbrief, aber sie funktionieren nicht als Drohung oder Hinweis, dass, wenn jemand sich von der Nachfolge von Jesus abwendet, dieser Mensch seine einstmalige Rettung verliert.

Richtig ist, dass der Hebräerbrief Abschnitte enthält, welche deutliche Warnungen und Konsequenzen des Abfalls vom Glauben ausspricht (Hebr. 2, 1-4; 3,7 – 4, 13; 5, 11 – 6, 12; 10, 19-39; 12, 1-29). Aber die Warnungen haben eine nuanciertere Funktion als das angeblich wahrgenommene Druckmittel, die gegenwärtige Rettung wieder zu verlieren. Natürlich befasst sich der Hebräerbrief wie kein anderer Brief im Neuen Testament mit der Wichtigkeit und Dringlichkeit, ausdauernd und dauerhaft am Glauben, den wir bekennen, festzuhalten. Das bloße Bekenntnis, dass man „Christ ist“ hat wenig Bedeutung. In sich allein kann es nichts mehr als eine Selbsttäuschung sein. Überall im Neuen Testament begegnen wir scheinbarem Glauben, der sich im Test der Zeit als oberflächliches Interesse an Christus herausstellt, aber nie im Herzen verwurzelt wurde und nie zu einer echten Erneuerung und Wiedergeburt geführt hat (Mat. 13, 1-23; Joh. 2, 23-25; 4, 43-45; 6, 66; 8, 31-59; 1 Tim. 1, 19-20; 1 Joh. 2, 19).

Ausdauer im Glauben ist der Test der Zeit und der Beweis, dass die Beziehung mit Gott echt ist. Die Abschnitte der Warnungen im Hebräerbrief funktionieren als Mittel, Ausdauer im Glauben zu bewirken und sind der Beweis, dass der Glaube an Christus echt ist. Diese Funktion der Warnungsperikopen, nämlich die Funktion als Gottes Mittel, um Ausharren zu bewirken und Beweis der echten Beziehung mit ihm zu sein, sind keine Indikatoren, dass ein Christ seine Rettung wieder verlieren kann. Ganz im Gegenteil: Ausharren im Hebräer-Brief ist Zeichen für eine echte Gottesbeziehung, die nicht verloren gehen kann. Wer nicht im Glauben bleibt, erlebt entweder einen temporären Rückschlag im Glauben, der durch Buße wieder wett gemacht werden kann und wiederum Zeichen einer echten Gottesbeziehung ist – oder hatte nie echtes Vertrauen in Christus.

Dies ist zum Beispiel an zwei Bibelstellen erkennbar, die in eine der Warnungsabschnitte eingebettet ist (Hebr. 3,7 – 4, 13):

Mose war treu in seinem Haus als ein Sklave,… Christus aber ist treu als Sohn über sein eigenes Haus. Sein Haus sind wir, wenn wir die Zuversicht und die Freude der Hoffnung bis zum Ende standhaft festhalten. (Hebr. 3, 6)

Denn wir sind Teilhaber des Christus geworden, wenn wir die anfängliche Zuversicht bis zum Ende standhaft festhalten. (Hebr. 3, 14)

Es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass man beachtet, was Hebr. 3, 6 & 14 nicht sagen! Der Text sagt nicht, dass, wenn wir standhaft im Glauben fest halten, wir Gottes Haus oder Teilhaber Christi werden. Der Text sagt auch nicht, dass, wenn wir vom Glauben abfallen, wir aufhören, Gottes Haus oder Teilhaber Christi zu sein. Anstelle dessen definiert der Schreiber des Hebräer-Briefes, was für eine Art von Mensch Gottes Haus (das heisst, Mitglied Seiner Familie) oder Teilhaber Christi geworden ist. Wir sind Teilhaber Christi geworden (Hebr. 3, 14) (geworden (Gr.: gegonamen) ist ein Verb in der Zeitform des Perfekts, welches eine abgeschlossene Handlung mit Hinweis auf derzeitige Resultate anzeigt). Auf die Frage, wer „wirklich gerettet“ ist, antwortet der Schreiber des Hebräer-Briefes: „derjenige, der im Glauben bleibt und seine ursprüngliche Hoffnung bis zum Ende bewahrt.“ Oder in anderen Worten: du kannst wissen, ob jemand bereits unumkehrbar Mitglied der Familie Gottes und Erbe Christi geworden ist, wenn diese Person bis zum Schluss im Glauben bleibt.

Wenn jemand nicht „standhaft festhält“ (Hebr. 3, 6 & 14), kann man nicht schlussfolgern, dass sie aufgehört haben, Teil der Familie Gottes (Gottes Haus) zu sein, sondern dass sie niemals echte Mitglieder des Hauses Gottes bzw. Teilhaber Christi geworden sind! Hebräer 3 will nicht sagen, dass Menschen durch ausdauerndes Festhalten am Glauben ihre Beziehung zu Christus erhalten, sondern sie zeigen durch das Festhalten am Glauben, dass sie eine echte Beziehung mit Christus haben und dieser ihre Beziehung zu Ihm erhält!

Also, wenn ein Mensch die „anfängliche Zuversicht“ nicht „bis zum Ende standhaft festhält,“ kann man nicht davon schließen, dass eine bestehende Beziehung mit Gott terminiert wurde, also dass man den Status ein Mitglied der Familie Gottes bzw. Teilhaber Christi verloren hat. Sondern man kann davon implizieren, dass dieser Mensch von Anfang an nie ein Teilhaber Christi bzw. ein Familienmitglied Gottes war. Dieser Mensch hatte nicht Rettung und verlor sie später, sondern zeigt durch seinen Abfall vom Glauben, dass er nie wirklich Mitglied von Gottes Familie geworden ist. Andererseits, wenn ein Christ an der „Zuversicht des Glaubens“ festhält, zeigt dies, dass er wahrhaftig ein Kind Gottes ist.

In allen Abschnitten im Hebräerbrief, in denen Festhalten an Christus bis zum Ende unseres Lebens als Anzeichen echten Glauben erwähnt ist, ist das Ziel dieser Abschnitte nicht, denen, die Christus vertrauen, Angst zu machen, dass sie irgendwann in der Zukunft vom Glauben abfallen könnten. Vielmehr ist das Ziel dieser Perikopen immer diejenigen, die es erwägen den Glauben zu verlassen oder den Glauben bereits verlassen haben, einen warnenden Hinweis zu geben, dass sie nie gerettet waren und nicht gerettet werden.1

Ausdauer ist gemäß des Schreibers des Hebräerbriefes der Beweis einer realen Gottesbeziehung. Ohne Ausdauer im Glauben wird es keine Rettung geben – aber nicht, weil man eine früher empfangene Rettung wieder verloren hat, sondern weil man von Anfang an weder echten Glauben noch eine wahre Gottesbeziehung hatte. Wenn du von Christus gerettet wurdest, freie Gerechtigkeit empfangen hast und von Gott dem Vater adoptiert wurdest, kannst du gar nicht anders als im Glauben dran bleiben!

Es gibt Christen, die behaupten „es reicht, Jesus ‚als Retter,‘ aber nicht notwendigerweise als ‚Herrn‘ anzunehmen, um errettet zu sein.“ Angesichts des klar ausgesprochenen Anspruchs im Hebräerbrief, dass nur Christen, die bis zum Ende standhaft im Glauben bleiben, echte Christen sind, wird diese theologische Position kaum haltbar sein. „Einmal gerettet, immer gerettet,“ „Hauptsache man hat mal seine Hand im Gottesdienst gehoben“ sind Slogans, die mit den Aussagen des Hebräerbriefes nicht vereinbar sind.

Auf der anderen Seite zu argumentieren, dass Rettung, die Gott einmal geschenkt oder Erneuerung, die einmal im innersten des Christen von Gott bewirkt wurde, wieder verloren gehen kann, ist ebenso konträr der Aussagen der Heiligen Schrift. Gottes Gnade ist nicht so gering, dass sie zwar einen Sünder retten, ihn aber vor dem Abfall derselben Gnade nicht erhalten kann. Wenn du von neuem geboren wurdest, Teilhaber von Christus und Teil der Familie Gottes geworden bist, wirst du nicht anders können, als im Glauben bei Christus bleiben. Dieselbe Gnade, die dich gerettet hat, wird dich im Glauben ausharren lassen.

Soli gratiae dei gloria!

1 Wayne Grudem, „Perseverance of the Saints: A Case Study from Hebrews 6 and the Other Warning Passages in Hebrews.“ In: Thomas R.Schreiner and Bruce A. Ware, eds., The Grace of God, Bondage of the Will. 1995, 173-74.


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Kommentare

2 Antworten zu „Kann ein Christ seine Rettung verlieren? Sagt der Hebräerbrief wirklich ‚Ja‘ dazu?“

  1. Avatar von T.
    T.

    Ersteinmal danke für die vielen schönen Blogeinträge. Verfolge seit ein paar Wochen deinen Blog mit Interesse und profitiere!

    Ich stimme deiner Position zu (Heilssicherheit), allerdings nicht allen ihren Begründungen. Ich denke, die Warnungen im Hebräerbrief dienen nicht der zurückschauenden Prüfung, ob mein Glaube echt war bzw. ist. Die Warnung in Hebr. 2,1 beispielsweise, in die sich der Verfasser selbst mit einschließt, ist klar zukukunftsorientiert. Ich verstehe das Ganze so: Das Heil ist eine Gabe, die wir sowohl jetzt haben, als auch in Zukunft noch empfangen werden. Gerade deshalb ist die Ausdauer im Glauben, von der im Hebräerbrief die Rede ist, notwendig. Ich denke, dass die Frage, ob ein Christ „wieder verloren“ gehen kann, nicht die „primäre“ Frage ist, die sich der Autor des Hebräerbriefs stellt, sondern vielmehr, was ich notwendigerweise aus dem Glauben (der von Gott gewirkt ist) tun bzw. nicht tun sollte, damit ich am Ende meines Lebens bzw. am jüngsten Tag das Heil auch erreiche.

    Mit vielen Grüßen, T.

    1. Avatar von Dierk Müller

      Danke für das Kompliment und das Mitdenken und sinnvolle Hinterfragen der Argumentation. Es stimmt, dass die Warnungen im Hebräer-Brief nicht der zurückschauenden Prüfung dienen, ob Glaube echt ist. Die Warnungen wirken vielfältig: als Ansporn, am Glauben fest zu halten, als Motivation Gott zu vertrauen, dass Er den Gläubigen hält und einige andere Nuancen. Was der Hebräer-brief allerdings behauptet ist, dass Ausharren im Glauben ein Indiz für einen echten Glauben ist.

      Für Hebr. 2, 1 ist es nicht 100% gesichert, dass der Verfasser sich selbst in die Möglichkeit des Abfalls mit einschließt, da das „wir“ auch die Option lässt, eine Konvention des im Koine Griechisch gut bezeugten „editorialen wir“ zu sein. Der Sprecher oder Schreiber adressiert dabei jeden in seiner Audienz als Gruppe mit einem allgemeinen „wir.“ Es ist eine Ansprache an ein gemischtes Publikum, ohne dabei zu indizieren, dass die Bedingungen des Satzes auf jeden der Zuhörer gleichermaßen zutreffen. Ein Beispiel dafür könnte 1 Joh. 1, 10 sein: „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben…“ Johannes will weder sich selbst, noch alle seine Zuhörer in das „wir“ einbeziehen. Es ist ein editoriales, eine Art „Prediger-wir.“ Ob dies im Hebräer-Brief der Fall ist, kann nicht aufgrund von Hebr. 2, 1 definitiv entschieden werden, sondern muss unter Beachtung der sonstigen Aussagen im Hebr.-Brief erfolgen.

      Viel Freude und Erfolg beim knobeln um knifflige theologische Fragen!

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