Wo hat Johannes seine Offenbarung gehabt? Und warum ist das überhaupt interessant?

Ich war vor kurzem auf Patmos. Die Bibel in der Offenbarung aufgeschlagen, schaute ich von meiner Schattenterrasse aufs Meer hinaus und fragte mich, wo denn Johannes war, als er die Visionen der Offenbarung hatte. Und falls man es tatsächlich konkreter eingrenzen könnte als „irgendwo auf Patmos“, macht das dann für das Verständnis der Offenbarung einen Unterschied?

Eingang zur „Höhle der Apokalypse“.

Der traditionelle Ort, den die Pilgerscharen besuchen, um mal dort zu sein, wo Gott Johannes die Offenbarung „diktiert“ hat, ist die Höhle der Apokalypse, auf der Straße zwischen dem Hafenort Skala und dem Johanneskloster gelegen. Die 3 Euro Eintrittsgebühren kann man sich allerdings sparen, denn die Höhle, die man zu einer traditionellen orthodoxen Kirche ausgebaut hat, ist der unwahrscheinlichste Ort, wo Johannes die Visionen der Offenbarung gesehen hat. Wahrscheinlich war er niemals an diesem Ort.

Die Höhle (rechts), in der Johannes gelegen haben soll, als Gott ihm die Offenbarung gab.

Warum? Um zu schauen, wo genau Johannes auf Patmos war, als er während der Regentschaft Domitians im Exil war, muss man sich zwei Sachen genauer ansehen: a) die Art des Exils, welche Johannes erlitt und b) die Lebensverhältnisse auf Patmos im ersten Jahrhundert.

Welche Art von Exil musste Johannes erleiden?

Über die Lebensverhältnisse des Johannes auf Patmos existieren in der allgemeinen Vorstellung die unterschiedlichsten Thesen. Für die einen lebte Johannes als eine Art meditierender Asket in abgelegenen Teilen der Wildnis von Patmos, andere denken, Johannes schuftete in Ketten in einem Steinbruch.

Die Idee von Johannes als meditierender Eremitage kann man recht schnell verwerfen. „Ich war auf der Insel Patmos um des Wortes Gottes und Zeugnisses von Jesu willen“… (gr. dia ton logon tou theou kai teen marturian Ieesou) (Off. 1, 9) bedeutet nicht, dass Johannes nach Patmos gegangen ist, um ein Wort Gottes zu empfangen oder das Wort Gottes zu predigen. Die grammatikalische Konstruktion, die Johannes wählt (dia + Akkusativ) wird im Neuen Testament nie „für das Wort Gottes willen im Sinne des Ziels“, d.h. „für missionarische Aktivität oder für das Empfangen von Offenbarung“ verwendet (BDAG 225-26), sondern „aufgrund des Wortes Gottes Willen“ im Sinne von Ursache „weil ich für das Wort Gottes eingestanden habe, wurde ich hierher verbannt.“ Exakt dieselbe Formulierung finden wir auch in Offb. 6, 9 und 20, 4 wo Menschen „um des Wortes Gottes und des Zeugnisses willen, dass sie hatten“ (gr. dia ton logon tou theou kai dia ten martyrian een eixon) als Märtyrer umgebracht wurden! Johannes war auf der Insel Patmos, weil er für sein Einstehen für das Evangelium bestraft wurde.

Musste Johannes nun auf Patmos angekettet an andere Verbrecher und Sklaven in der glühenden ägäischen Hitze in Minen schuften? Diese sogenannte Steinbruchthese vertrat als erstes Victorinus von Petau, der ca. 304 n.Chr. auf Lateinisch schrieb „Er [Johannes] war auf der Insel Patmos, in die Minen verdammt durch Caesar Domitian, wo er die Apokalypse sah …“ (Victorinus, 92). Entgegen der (falschen) Behauptung einiger Ausleger,1 war Patmos jedoch keine Römische Strafkolonie. Es gibt geologisch keine Hinweise auf Steinbrüche aus der Antike auf Patmos, die Insel besitzt keine Vorkommen von Marmor oder andere abbauwürdige Materialien, welche Steinbrüche oder Minen rechtfertigen würden.

Antiker Steinbruch auf der Insel Thasos. Auf Patmos hingegen gibt es keine geologischen Hinweise auf Steinbrüche, welche im ersten Jahrhundert aktiv waren.

Wie sah das Exil von Johannes nun aber aus? Es gibt nach dem Römischen Gesetz und je nach Epoche viele unterschiedliche Arten des Exils.2 Zusammenfassend kann man jedoch sagen, dass das Römische Exil eine Strafe für die Angehörigen der höheren gesellschaftlichen Schichten war. Das gleiche Verbrechen wurde bei niedrigeren gesellschaftlichen Schichten (die humiliores [Sklaven, Freigelassene, Fremde, etc.]) strenger geahndet als bei höheren gesellschaftlichen Schichten (die honestiores [Senatoren, Ritter, Römische Bürger, etc.]). Der gesellschaftliche Status des Verklagten (dignitas) zählte in diesem Fall mehr als das Verbrechen. Wurde ein humiliores zum Tode verurteilt, wurde für einen honestiores für dasselbe Verbrechen das exilium verhängt. Das exilium ist jedoch alles andere als „nur mit einem blauen Auge davon gekommen“ – Exil kann so hart sein, dass bei einigen Arten des Exils Bürgerrechte entzogen und der Besitz des Verurteilten konfisziert wurde. Der Verbannte wurde mittellos und ohne Verbindungen oder gesellschaftlichem Stand in entlegene Kolonien (zum Beispiel Köln) abgesetzt. Römische Geschichtsschreiber erzählen, dass nach dem Tod mancher Kaiser und der Annullierung ihrer Urteile durch ihre Nachfolger Exilanten ausgehungert, ausgemergelt, mit zerfetzten Kleidern und nicht wieder zu erkennen in die Heimat zurück kamen.

Trotz der Vielzahl der Arten des Römischen Exils kann man diese grob in zwei Gruppen einteilen: deportatio und relegatio. Die deportatio ist die strengere Art des Exils, sie wurde vom Kaiser angeordnet und beinhaltete Verlust von Bürgerrechten und allen Eigentums. Die Exilanten wurden eher in entlegenere Orte verbannt. Die relegatio ist die mildere Form der Verbannung und wird vom Regenten der Provinz (in unserem Fall wäre das der Prokonsul von Asien) angeordnet. Besitz, Bürgerrechte und ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Stellung gingen in diesem Fall nicht verloren. Viele Kirchenväter deuten an, dass Johannes die schwerwiegendere Art des Exils erlitt. Der Kirchenvater Tertullian jedoch schreibt explizit, dass Johannes zu einer relegatio ad insulam verurteilt wurde. Tertullian war Rechtsanwalt und sein präziser technischer Ausdruck für eine konkrete Form des Römischen Exils (Digest, 48.22.6-7) macht ihn zu einem vertrauenswürdigerem Zeugen in diesem Fall. Die Tatsache, dass Johannes von seinem Heimatort in späteren Jahren, Ephesus, in das weniger als 100 km Luftlinie entfernte Patmos (ein Katzensprung für antike Schifffahrten) verbannt wurde, spricht auch eher für die weniger strenge Art des Exils: die relegatio. Wahrscheinlich wurde gegen Johannes (ähnlich wie gegen die Christen in Smyrna und Philadelphia, siehe Off. 2, 9; 3, 8) öffentlich Anklage erhoben und der Römische Prokonsul mit Sitz in Ephesus verurteilte dann Johannes mit einer relegatio ad insulam, die Verbannung auf eine Insel, die immer noch innerhalb des Herrschaftsbereiches des Prokonsuls lag.

Nun ist uns nicht erst seit der Verurteilung des Johannes ins Exil bewusst, dass Johannes aus einer gehobeneren sozialen Stellung kam. Schon aus den Evangelien wissen wir, dass Johannes zur jüdischen Aristokratie angehörte, mit Verbindungen zum Hohepriester. (Vergleiche zum Beispiel Joh. 18, 16. Dort „befehligt“ Johannes wie selbstverständlich die Sklavin, die den Zugang zum privaten Domizil des Hohepriesters regelt. Wenn man sich in antike Verhältnisse hinein versetzt, so weiß man, dass sich generell nur Gleiche zu Gleichen gesellen. Der normale Bauer aus Galiläa spaziert also nicht einfach so in das herrschaftliche Haus der sozialen und ökonomischen Elite [in unserem Fall der Hohepriester]. Wie bei dem reichen Mann in Lukas 16 blieb das Gesindel draußen – vor dem Tor! Johannes spaziert aber beim domus des Hohepriesters rein und raus, als ob er dort zu Hause wäre und findet bei der Sklavin des Hohepriesters genügend Gehör, dass er auch Petrus mit hinein nehmen kann.)

Johannes gehörte also zur gehobeneren gesellschaftlichen Schicht und wurde dementsprechend nicht zum Tode verurteilt, sondern aufgrund seiner dignitas ins Exil geschickt. Solche Leute, auch in einer relegatio, treiben sich nicht in abgelegenen Höhlen auf fremden Inseln herum. Örtliche Sklavenjungen, die gerade Ziegen hüten, ja. Aber nicht jemand aus gehobenen gesellschaftlichem Klientel mit außerdem ehrwürdigem Alter.

Johannes war kein meditierender Einsiedler, der sich in eine entlegene Wildnis zum Inkubationsschlaf für Offenbarungen zurück gezogen hatte. Er wanderte als honestiores nicht in Gegenden von Dieben und Ziegenhirten herum. Aber wenn Johannes nicht in der (im ersten Jahrhundert einsamen und verlassenen) Höhle der Apokalypse herum lungerte, wo hielt er sich dann auf?

Wie sah Patmos im ersten Jahrhundert aus?

Die besten Indizien, wie Patmos im ersten Jahrhundert ausgesehen hat, findet man heute im Johanneskloster. Natürlich stammt das Kloster selbst nicht aus der Antike, sondern wurde ab 1088 nach Christus auf den Ruinen des antiken Artemistempels erbaut.

Das Kloster Agio Ioannis Theologos, mit verschiedenen Bauepochen ab dem 11. Jahrhundert.

Aber im Kloster gibt es ein klasse Museum. Wie bei allen Museen und archäologischen Stätten in Griechenland lohnt es sich, das Kloster zu besuchen, bevor die Touristen ausgeschlafen und gefrühstückt haben (geöffnet ab 8 Uhr). Dann genießt man idyllische Stille und die Museumsangestellten haben Muße genug, das zweite Stockwerk auf explizite Nachfrage (!!!) aufzuschließen, denn da finden sich die wahren Schätze für Interessenten der Antike.

Votivstele zu Ehren des Hegemandros von den Fackelträgern (gr. lampadeedromia). Patmos, (2. Jh. v. Chr.) mit folgendem Text:

Im Jahr Sopolis, im Monat Artemision, wurde von der Vereinigung (gr. koinon) der Fackelläufer (gr. lampadistai) in Patmos und denen, die am Salböl teilhaben, beschlossen: Da Hegemandros, Sohn des Menekrates, sich den Göttern gegenüber beständig gottesfürchtig verhalten hat und er sich gegenüber seinen Verwandten und den Bürgern edel verhalten und ihnen von klein auf Hilfe geleistet hat, sowohl gemeinsam als auch individuell für jeden von ihnen; und außerdem hat er siebenmal als Gymnasiarch und hat als Lampadarch gedient und hat das lange Rennen gewonnen und hat dies alles in einer Weise getan, die sowohl ihm als auch uns gebührt. Und (er wird deshalb) als Schatzmeister (gr. chrysonomos) der Lampadistai ernannt, er bewahrt das Geld und kümmert sich um alle anderen Angelegenheiten; und er hat jetzt versprochen, dass er eine Steinstatue des Hermes weihen und zweihundert Drachmen bereitstellen wird, damit sie verzinst werden können; und er hat versprochen, dass er, solange er lebt, aus eigenen Mitteln sowohl die Opfer darbringen als auch die Hermaia verwalten wird; deshalb wird beschlossen, dass Hegemandros für seine gute Einstellung geehrt werden soll; und dass die Lampadistai und die Aleiphomenoi (die zur Übung Gesalbten) den Hegemandros mit einer goldenen Krone aus fünf Alexandrinischen Statern und einem gemalten Porträt krönen werden; und dass ihm zu Ehren ein gleichnamiger Tag begangen wird; und dass die Priesterschaft (?) von Hermes Hegemandros gehören soll und wenn… (SIG 1068).

Für unsere Nachforschungen sind von den vergleichsweise spärlichen Inschriftenfunden auf Patmos zwei Inschriften jedoch von besonderer Bedeutung. Die Votivstele zu Ehren des Hegenmandros ist ein beeindruckendes Zeugnis des Lebens auf Patmos im zweiten Jahrhundert vor Christus. Aus den literarischen Zeugnissen wissen wir, dass Patmos zusammen mit der Insel Lipsos und Leros eine phrouria war, also eine Festungsinsel zum Schutz der ca. 50 km östlich gelegenen Metropole Miletus. Es gab also einen Militärstützpunkt mit Militärhafen auf Patmos, inwieweit dieser aber Ende des ersten Jahrhunderts noch von Bedeutung war, ist fraglich beziehungsweise ungewiss. Völlig unabhängig von der Gegenwart des Militärs offenbart uns die Votivstele jedoch wichtige Erkenntnisse über die Einwohner von Patmos!

Wir erfahren zum einen, dass der geehrte Hegemadros acht Mal Gymnasiarch auf Patmos war, also die jährlich zu vergebene Rolle des Führers des Gymnasiums auf Patmos inne hatte. Wo ein Führer des Gymnasiums ist, muss es aber auch ein Gymnasium geben, und wo es ein Gymnasium gibt, gibt es Epheben, also die jungen Leute, die unmittelbar nach der Pubertät das Gymnasium zur militärischen, charakterlichen und geistigen Ausbildung besucht haben. Und wo es Epheben gibt, gibt es Familien mit Kindern, wo die jungen Männer aufgewachsen sind. Auf Patmos hat es also eine genügend große deemos gegeben haben, dass sich ein Gymnasium auf der Insel lohnt. Wären da nur eine paar einsame Leute gewesen, hätten die ihre Kinder nach Miletus oder Samos geschickt. Die Insel war also alles andere als spärlich bewohnt, sondern hatte eine genügend große Bevölkerung, die in typischer griechischer Weise sich mit allen Lebensqualitäten des griechischen Lebens organisiert hat.

Wir erfahren weiterhin, dass es auf Patmos nicht nur ein paar verstreute Fackelläufer gab, sondern eine richtige Vereinigung inklusive Finanzverwaltung für sie. Die Fackelläufer waren Sportler, die wie beim modernen Staffellauf in Teams gegeneinander antraten und in Sportwettkämpfen zur Ehren der Götter um Ruhm und Ehre kämpften (und unser Hegemandros ziemlich erfolgreich darin war). Nun ist es sicher so, dass Sportwettkämpfe nicht nur in den berühmten Stätten Olympia, Korinth, Delphi, Nemea, etc. statt fanden. Jede griechische Stadt, die etwas auf sich hielt, veranstaltete Sportwettkämpfe, aber eben nicht jeder entlegene Bauernhof. Sportwettkämpfe bedeutet das Vorhandensein von Heiligtümern, zu deren Ehren man kämpfte; eine genügend große Auswahl an Sportlern; Sponsoren zum Trainieren, Zuschauer, etc. Dass auf Patmos Sportwettkämpfe stattfanden, ist Indiz für eine ordentliche griechische Bevölkerung, die in der Lebensweise anderer griechischen Städte vergleichbar war. Genau das zeigen auch viele andere Indizien der Stele: es werden Götterstatuen aufgestellt, hervorragende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens geehrt (das macht man nicht da, wo nur gelegentlich der einsame Ziegenhirte vorbei läuft, sondern da, wo Leben pulsiert und die Ehreninschriften von genügend vielen und genügend wichtigen Leuten gelesen wird). Summa summarum, auf Patmos tobte zwar nicht der Bär wie in Miletus oder Ephesus, aber eine einsame Insel war Patmos auch nicht. Als Johannes da ankam, war die Insel bewohnt inklusive einer gefestigten gesellschaftlichen Struktur, mit öffentlichen Gebäuden, einem öffentlichem Leben, Kultstätten inklusive kultischem Kalender, also Feiertagen, Prozessionen einem öffentlichem Leben, etc. Über den Rest kann man spekulieren, aber wahrscheinlich gab es neben Häusern der gehobeneren Mittelklasse auch einen Markt, Restaurants, etc. … ein Ideal einer griechischen Kleinstadt eben.

Ehreninschrift für die Priesterin Hydrophorus (2. Jahrhundert nach Christus) mit folgendem Text:

Mit viel Glück. [Artemis] selbst, die jungfräuliche Jägerin, wählte als ihre Priesterin Hydroforus Vera von Patmos, die edle Tochter des Glaukios, um unter günstigen Vorzeichen Opfer von sich windenden neugeborenen Ziegen darzubringen. Vera wurde als junges Mädchen im glorreichen Argos erzogen, aber geboren und aufgezogen wurde sie auf Patmos, der sehr ehrwürdigen Insel der Tochter des Letos (Artemis), die aus den Tiefen des Meeres auftauchte und zum Thron der Artemis wurde, und sie wurde seine Hüterin, seit der kriegerische Orestes ihre Statue aus Skythien entführte und hier aufstellte; und danach beruhigte sie seinen schrecklichen Wahnsinn, der durch den Mord an seiner Mutter verursacht wurde. Nun überquerte sie, die zehnte (Priesterin der Artemis), Vera, die Tochter des weisen Arztes Glaukios, nach dem Willen der skythischen Artemis das gefährliche Ägäische Meer, um glorreich das Fest und das heilige Mahl zu feiern, wie es das göttliche Gesetz vorschreibt. Mit viel Glück. (https://inscriptions.packhum.org/text/252839?bookid=518&location=1688)

Die zweite Inschrift über eine Priesterin der Artemis (deren Tempel, wie bereits erwähnt, sich da befand, wo heute das Johannes-Kloster steht) kommt aus dem 2. Jahrhundert nach (!) Christus. Diese Inschrift hilft uns zu sehen, dass sich seit der Zeit der vorherigen Inschrift aus dem 2. Jahrhundert vor (!) Christus bis zu Zeiten des Johannes und ins 2. Jahrhundert nach Christus auf Patmos sich grundlegend nicht viel geändert hat. Sicher, der römische Einfluss wird zugenommen haben, Tempel und öffentliche Gebäude sind wahrscheinlich vergrößert und ausgebaut worden – aber genau das ist unser Punkt: die Bevölkerung und das öffentliche Leben von Patmos hat sich wahrscheinlich im Laufe der Zeit eher vergrößert als verkleinert. Die Inschrift der Hydrophorus ist ein wichtiger Zeitzeuge dieser Kontinuität öffentlichen Lebens. Patmos wird als Thron der Artemis beschrieben (aufgrund der Existenz eines lebendigen Kultes vor Ort), es gibt auf der Insel kultische Feste, regelmäßige Opfer und eine Priesterin, die aus einer noblen Familie stammt, die ursprünglich aus Patmos stammt.

Wir können uns also Patmos zu Zeiten des Johannes als eine kleine griechische Stadt vorstellen mit Hafen, privaten Häusern, Tempelanlagen, öffentlichen Gebäuden und mit Einwohnern aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die ihre Kinder zur Schule und ihre „Teenager“ aufs lokale Gymnasium geschickt haben. Eine Stadt, die zwar etwas ab vom Schuss des pulsierenden Lebens der gigantischen Metropole Ephesus war, aber immer noch nah genug, dass regelmäßiger Schiffsverkehr zum Festland statt fand und man auch auf Patmos wusste, was in der Weltgeschichte so los war.

Wo genau aber war denn nun Johannes, als er seine Visionen der Offenbarung sah?

Nun hat Patmos leider außer Übrigbleibseln ziemlich beeindruckender antiker Festungsanlagen, der Akropolis Castillo, nicht viel zu bieten – aber genau das ist ein exzellenter Hinweis für sinnvolle Spekulationen. Die Akropolis Castillo befindet sich nicht auf der höchsten Erhebung der Insel (da wo das Johanneskloster sich befindet), sondern auf dem nächstkleineren Hügel westlich des Hafenortes Skala. Man kann diesen Hügel und die antiken Befestigungen der Akropolis mit dem bloßen Auge gut vom Johanneskloster aus oder von der Straße die von Skala zum Johanneskloster führt, aus sehen.

Hafenort Skala mit Hügel (links davon) auf dem die Festungsanlagen der Akropolis zu finden sind.

Aber warum hilft uns die Akropolis, heraus zu finden, wo Johannes sich im ersten Jahrhundert aufgehalten hat? Auf der Akropolis selbst war er eher kaum oder gar nicht. Dort standen nicht die regulären Wohnhäuser der Einwohner. Die Akropolis war Rückzugsort in Zeiten von Angriffen durch feindliches Militär oder Piraten bzw. der Ort, wo bedeutende Tempelanlagen aufgebaut waren (im Fall von Patmos der Tempel des Apollo).

Ruinen des „Nord-West-Turmes“ und einer der Eingänge zur Akropolis. Es gibt in Skala einige Hinweisschilder auf den Pfad zur Akropolis, diese werden jedoch außerhalb der Stadt immer spärlicher und die Unterscheidung, was Ziegen- und was Menschenpfad ist, immer schwieriger. Solange man es aber schafft, aufwärts zu kommen, ist man richtig. Oben angekommen kann man die Festungsanlagen nicht verfehlen. Der Nord-West-Turm befindet sich gleich neben dem kleinen Kirchlein des Heiligen Konstantin.

Nun muss im Notfall die Akropolis schnell erreichbar sein. Man baute sie nicht kilometerweit weg vom eigentlichen Zentrum des Lebens, sondern wie der Name schon sagt, oberhalb der Stadt. Die Akropolis war entweder Teil der Befestigungsanlagen, welche ein Stadt umschlossen, oder auf der Spitze des Hügels gelegen, an deren Hängen oder zu dessen Füßen die Stadt gebaut wurde.

Blick auf den Hafenort Skala von der antiken Akropolis aus.

Das Leben im ersten Jahrhundert auf Patmos wird sich also hauptsächlich in der Hafenstadt unterhalb der Akropolis statt gefunden haben – genau da, wo sich heute die Stadt Skala befindet. Die antiken Häuser und öffentlichen Gebäude sind zerstört und überbaut, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass da, wo heute die Fähren anlegen, auch das Schiff angelegt hat, wo Johannes zum Exil auf Patmos von Bord gegangen ist. Von all den Möglichkeiten, wo Johannes war, ist der Hafenort Skala der wahrscheinlichste Ort. Das ist zwar auch nur Spekulation ohne direkte Indizien, aber eine Spekulation von der ich denke, dass sie die antiken Verhältnisse am besten berücksichtigt.

Eine der vielen kleinen Gässchen im Hafenort Skala auf Patmos.

Johannes wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf einer von ihm mitgebrachten Decke in einer einsamen Höhle geschlafen haben – wie gesagt, so was machen in der Antike höchstens Sklaven, die als Ziegenhirten unterwegs waren. Johannes wird über irgendwelche Verbindungen – ein Freund eines Freundes, der Großcousin eines Christen … -, über persönliche Beziehungen eben (so und genau so half man sich in der Antike) in Patmos in einem ganz „gewöhnlichen“ Wohnhaus untergekommen sein. Johannes wird eingebunden gewesen sein in das Familienleben seines Gastgebers. Er wird am Hafen Ankommende nach Neuigkeiten gefragt haben und den einen oder anderen reisenden Christen Grüße auf den Weg gegeben haben. Er war weg von den Gemeinden, die ihn als Apostel schätzten, aber er wird nicht ohne Kommunikationsmöglichkeiten mit ihnen gewesen sein. Johannes wird die Kulthandlungen und religiösen Feste auf Patmos gesehen haben und von den politischen Entwicklungen informiert gewesen sein. Sein Leben war nicht das eines Einsiedlers und auch nicht das eines in den Minen schuftenden Sklaven. Er wird als exilierter honestiores in ein familiäres und gesellschaftliches Leben auf Patmos eingebunden gewesen sein.

Abendstimmung in den Straßen von Skala auf Patmos.

Wer also der Lebenswelt des Johannes nah sein will, braucht wohl keins der fast unzähligen Klöster und Kirchlein auf Patmos besuchen. Es reicht vollkommen, sich die gesparten 3 Euro, wie wir nicht für den Besuch der Heiligen Höhle der Apokalypse ausgegeben haben, für ein Glas Wein in einem Restaurant inmitten des abendlichen Flanierens von Patmos auszugeben. Näher an dem Ort und der Art des Lebens, welches Johannes auf Patmos gelebt hat, wird man wohl nicht kommen.

Hat das ganze außer bloßem historisch-archäologischem Sinnieren eine Bedeutung?

Nun muss man ganz ehrlich zugeben, dass wir auch ohne die Mutmaßungen, wo Johannes seine Offenbarungen gehabt hat, ganz gut die Offenbarung selbst verstehen können. Es macht für das Verständnis der Offenbarung keinen direkten Unterschied, ob Johannes seine Visionen in einer Höhle, neben einem der wenigen Bäume oder mitten in der Hafenstadt hatte.

Aber die Frage „wie Johannes auf Patmos gelebt hat“ hilft die Vorstellung, was die Offenbarung ist, zurecht zu rücken. Die 22 Kapitel seines Werkes waren keine sagenumwobene, eklektische und mysteriöse Offenbarung einer fernen Zukunft. Die Offenbarung ist ein praktisches Buch. Sie wurde von den ersten Lesern mit Sicherheit verstanden. Die Symbole des prophetisch-apokalyptischen Genre dieser Literatur in Anlehnung an das Alte Testament sind uns heute fremd, wurden aber von den ersten Lesern intuitiv und sofort verstanden. Die Offenbarung forderte von den Lesern sofortiges Umsetzen und einen enormen Segen für diejenigen, welche die zwar symbolhaften, aber glasklaren Anweisungen im Alltag beachteten (Offb. 1, 3).

Loyalität zu Christus, Abkehr von Teilnahme an privaten und öffentlichen Kulten, moralische Transformation hin zu Judäo-Christlichen Sexualvorstellungen ausnahmsloser Treue zur Ehe von einem Mann und einer Frau, das Vertrauen auf die universelle souveräne Regentschaft von Christus und seine glorreiches Kommen, um ein neues paradiesisches Universum zu schaffen … all das waren Themen die nicht abseits in einer einsamen Höhle „diktiert“ wurden, sondern eingebunden im typischen Alltag einer griechischen Stadt in Visionen gesehen und in menschliche Sprache geformt wurden.

Kopfbüsten von Statuen bzw. aufgesetzt auf Ehrensäulen. Die Löcher dienten der Verankerung von metallenen Kronen. Solche Büsten findet man überall in Griechenland. Und eben auch hier auf Patmos (aus dem Museum des Johannesklosters). Johannes lebte inmitten dieser Römisch-Griechischen Welt auf Patmos.

Johannes selbst war der Lebenswelt seiner Empfänger nicht entfernt: als ob sie dem Druck der Einladung zu einem Abendessen im heidnischem Umfeld inklusive religiöser Einbindung und „sexueller Unterhaltung“ etwas entgegen setzen mussten und er ungestört an Pinienkernen kauend in einer einsamen Höhle an seinem Lebenswerk schreiben konnte. Ihre Welt war seine Welt. Johannes wusste auch auf Patmos, was es bedeutete, in einer heidnischen Umwelt mit Tempeln, Stelen, Laren, Opfern, etc. Christus treu nachzufolgen. Er war auf Patmos genau da, wo seine ersten Zuhörer in Ephesus, Smyrna, Pergamon … waren. Die Apokalypse ist ein Produkt übernatürlicher himmlischer Offenbarungen – aber sie ist auch in ihrer Entstehung eingebettet in das ganz normale Leben einer griechischen polis im ersten Jahrhundert.

1 Ernst Lohmeyer, Die Offenbarung des Johannes, 15; Eduard Lohse, Die Offenbarung des Johannes, 19 und andere berufen sich auf Pliny, Hist. Nat. 4.12.69, aber dort wird Patmos nicht als Strafkolonie beschrieben, sondern nur die Insel und ihr Umfang genannt! William Ramsey stellte 1904 in seinem Werk The Letters of the Seven Churches of Asia and Their Place in the Plan of the Apocalypse die Vermutung an, dass Patmos eine Strafkolonie war und Johannes zu harter Arbeit in den Minen verurteilt wurde (Seite 83); seine grundlose Annahme wurde daraufhin von vielen ohne weitere Indizien als Fakt übernommen (Beasley-Murray, 64; Witherington, 9; Johnson, 39).

2 Siehe die ausführliche Diskussion in David Aune, Revelation 1-5, 79-80.


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