Patmos. Der Engel des Herrn war nicht gekommen, um zu baden!

In der Offenbarung gibt es eine seltsame Beschreibung über einen gewaltigen Engel, der seine Füße zum einen auf das Meer und zum anderen auf das Land stellt. Auch wenn die meisten von uns Offenbarung 10 kennen, geht es sicher vielen genau so wie mir: Ich habe das Kapitel viele Male gelesen, aber die Details und ihre Bedeutung komplett überlesen. Was soll auch schon so wichtig sein über einen Engel, der anscheinend gerade mal die ägäische Wassertemperatur mit seinen Füßen ausprobiert?

„Und ich sah einen anderen starken Engel aus dem Himmel herabkommen, bekleidet mit einer Wolke, und der Regenbogen war auf seinem Haupt, und sein Angesicht war wie die Sonne, und seine Füße waren wie Feuersäulen; und er hatte in seiner Hand ein geöffnetes Büchlein. Und er stellte seinen rechten Fuß auf das Meer, den linken aber auf die Erde …“ (Offb. 10, 1-2).

Interessanterweise vermitteln uns diese unscheinbaren zwei Verse aus Offenbarung 10 das (!) zentrale theologische Thema der Offenbarung! Was? Ein badender Engel soll die wichtigste Aussage der Offenbarung sein? Genau. Wir denken aus unserer Perspektive des 21. Jahrhunderts, dass die Details darüber, wie der Engel aussieht und was er tut, unwichtiges Beiwerk sind. Ist ja eigentlich egal, wo der Engel seine Füße hin stellt. Irgendwo muss er ja stehen. Die Beschreibung löst bei einem Leser im ersten Jahrhundert jedoch sofort verstandene und beeindruckende Assoziationen aus. Da, wo wir eilig weiter hasten wollen, um endlich aus der Offenbarung zu erfahren, was die Zeichen der Endzeit sind (die dann allerdings nie kommen), fordert die Offenbarung uns heraus, erst mal Pause einzulegen und überwältigt zu sein darüber, wer der Engel mit seinen Füßen auf Meer und Erde ist.

Erst mal kann man anmerken, dass man auf Patmos, wo Johannes die Vision des Engels aus Offenbarung 10 gesehen hat, gut visualisieren kann, wie es ausgesehen haben mag, als ein gewaltiger Engel erscheint und seine Füße auf Erde und Meer stellt. Die Insel Patmos sieht nicht aus wie ein rundes Ei im Meer, sondern die zerklüftete Küstenlinie ermöglicht es dem Besucher an so ziemlich jeder Ecke der Insel wunderschöne Ausblicke auf „Land und Meer“ zu genießen. Auch die Nähe der Nachbarinsel Ikaria und die mächtigen Berge von Samos schaffen beeindruckende Kulissen von „Land und Meer“. Also die Bank auf dem Bild wegdenken und dafür meditieren, wie es aussieht, wenn ein mächtiger Engel mit kilometerweitem Abstand zwischen seinem linkem und rechtem Fuß sich vor dir aufstellt.

Das nächste, was wichtig wäre, ist zu klären, wer denn dieser Engel überhaupt ist. Darüber haben Kommentatoren über Jahrhunderte hitzige Debatten geführt und (verallgemeinert) zwei Möglichkeiten vorgeschlagen:

a) der Engel in Offb. 10 ist ein wortwörtlich ein Engel und genau wie der „starke Engel“ aus Offb. 5, 2 ein Engel erhabenen Ranges unter den himmlischen Heerscharen;

b) der Engel in Offb. 10 ist niemand anders als Jesus selbst und zwar aufgrund dessen, dass der „Engel“ mit genau denselben göttlichen Eigenschaften beschrieben wird wie Christus in Offenbarung 1.

Welche Sicht die Mehrheitsmeinung hinter sich hat, ist eh ein fragwürdiges Kriterium zur Wahrheitsfindung und hilft uns an dieser Stelle sowieso nicht weiter: Beide Seiten verbuchten so ziemlich genau 50% der Leute, die jeweils über diese Stelle was geschrieben haben. Diejenigen, die behaupten, dass das himmlische Wesen ein wortwörtlicher Engel sein muss, begründen dies (zurecht) mit dem Argument, dass die Beschreibung „Engel“ (gr. angelos) in der Offenbarung immer, wirklich immer, für ein geschaffenes übernatürliches Wesen benutzt wird – entweder gut oder böse – aber eben immer im Sinn von „Engel“ und nicht „Gott“ oder „Christus“. Die anderen, die darauf beharren, dass der „Engel“ Jesus selbst sein muss, wenden jedoch ein, indem sie sagen: „Aber schaut doch mal, wie der ‚Engel‘ beschreiben wird: es sind doch haargenau dieselben Eigenschaften, welche in Offenbarung 1, 12-18 die göttliche Natur des Christus veranschaulichen!“ Und da haben sie auch Recht!

  • Der Engel ist „bekleidet mit einer Wolke“: Eine Wolke ist im Alten Testament oft eine theophanische Beschreibung von Gott (2 Mose 14, 19, 24; 16, 10). Die Wolke ist das sichtbare Mittel durch welches Gott seine unsichtbare Gegenwart offenbar macht. In Offb. 1, 7; 11, 12; 14, 14 beschreiben Wolken (in Anlehnung an Daniel 7, 13) die Göttlichkeit von Jesus – deshalb ist es wahrscheinlich, dass hier in Offenbarung 10 genau dieselbe Idee kommuniziert werden soll: der Engel kommt mit der Macht, der Autorität und den Eigenschaften, die Gott selbst ausmachen.
  • Der Regenbogen auf dem Haupt des Engels ist wahrscheinlich eine Anspielung auf Hesekiel 1, 26-28, wo Gott in ähnlicher Weise beschrieben wird. In der Offenbarung ist der Regenbogen Teil der Beschreibung der furchteinflößenden Beschreibung des glorreichen Regenten des Universums (Offb. 4, 3). Wenn Johannes den Regenbogen als Illustration des transzendenten Thron des Allmächtigen Gottes benutzt, warum taucht er dann hier auf, wenn nicht dieselben Assoziationen hervorgerufen werden sollen: dass der unnahbare und ehrfurchtgebietende Herrscher des Universums gegenwärtig ist?
  • Das Angesicht des Engels „war wie die Sonne“. Dies ist eine Wiederholung der Beschreibung von Jesus aus Offb. 1, 16. Wahrscheinlich beschreibt es in Anlehnung an Richter 5, 31 den siegreichen Charakter der Herrlichkeit Gottes. Natürlich darf man sich bei „wie die Sonne“ nicht die mickrige deutsche Novembersonne vorstellen, sondern das gleißende Licht der mediterranen Sommersonne. Sonne und Licht sind relativ universelle Symbole für gutes, angenehmes, das Gegenteil von dunkler Finsternis. Der Engel kommt also mit gleißender, alles durchdringender und angenehmer Herrlichkeit Gottes.
Sonnenaufgang auf Patmos. Der Gedankengang „ist das megahell, das kann der Mensch nicht lang ertragen, da rein zu sehen“ ist der Teil der Symbolik von „Angesicht wie die Sonne“. Es soll die vom Menschen nicht erfassbare, nicht kontrollierbare Wucht der Herrlichkeit Gottes zum Ausdruck bringen.
  • Die Füße des Engels „waren wie Feuersäulen“. Auch dies verweist auf Offb. 1, 15 und die Beschreibung des auferstandenen und verherrlichten Jesus. Dies könnte auch auf 2 Mose 13, 21 und die „Feuersäule“ hinweisen, mit der Gott Israel in der Nacht leitete. Auf jeden Fall sind die Feuersäulen des Engels gefährlich, denn in Anlehnung an Offb. 1, 15 beschreiben sie das tadellose und furchterregende Gericht dessen, der in moralischer Reinheit richtet.

Der beste Ausweg aus dem Hin- und Hergerissen sein, ob die Person in Offb. 10 ein Engel oder Christus ist, ist wahrscheinlich der Vorschlag, dass es sich tatsächlich um einen wortwörtlichen Engel handelt, der aber als Repräsentant Christi fungiert. Morphologisch ist die Person ein Engel, aber in seiner Funktion repräsentiert er das Wesen und das Handeln von Christus. Der Engel kommt in Offenbarung 10 als Stellvertreter Christi. Johannes wollte wahrscheinlich, dass seinen Lesern klar wird, wer Christus ist und was er tut – Jesus selbst konnte er jedoch an dieser Stelle nicht in persona erscheinen lassen, denn Offenbarung 10 beschreibt nicht die Wiederkunft von Jesus. Noch nicht. Um seinen Lesern nicht die falsche Vorstellung zu geben, dass Jesus in den Versen 1-2 schon in der triumphalen parousia wiederkommt, erscheint eben nicht Jesus selbst, sondern nur ein Engel, der aber – weil Johannes schon die Eigenschaften und das Wirken von Jesus beschreiben will – als Repräsentant Christi erscheint: Sein Aussehen, seine Eigenschaften, sein Wirken sind die des auferstandenen Christus.

Was es mit den Füßen des Engels auf sich hat …

Endlich kommen wir zur spannendsten und wichtigsten Aussage von Offenbarung 10, 1-2: der Engel setzt einen Fuß auf das Meer und den andern auf die Erde. Nein, das ist keine Badepose. Der Engel ist nicht gekommen, um mal seinen Fuß im kühlen Nass abzukühlen. Einen Fuß auf etwas zu setzen, ist in der antiken Symbolik eine explizite Herrscherpose! Was sich unter den Füßen befindet, wird vom Darüberstehenden souverän beherrscht!

Silberscheibe, welche ursprünglich Teil einer Militärstandarte war. Sie stellt den Kaiser (wahrscheinlich Tiberius) dar, wie er seinen linken Fuß auf einen Berg erbeuteter Waffen und seinen rechten Fuß auf einen gefesselten & knienden Barbaren stellt. Es handelt sich um eine typische Siegerpose, die auch in der Römischen Numismatik häufig vorkommt:
Es stellt den Triumphierenden als unangefochtenen Herrscher dar. Sowohl griechische als auch römische Münzen benutzen das Motiv und stellen Götter oder Kaiser in der triumphalen Herrscherpose stehend da: stehend auf einer Weltkugel, stehend auf besiegten Feinden oder deren Waffen. Siehe z.B. das berühmte „Judea Capra“-Motiv des Kaisers Vespasian. Die abgebildete Silberscheibe oben ist im LVR Landesmuseum Bonn ausgestellt.

Dass Meer und Land explizit erwähnt werden, worauf der Repräsentant von Jesus seine Füße stellt, ist auf der einen Seite die literarische Stilfigur des Merismus: Land und Meer bedeutet nicht nur, dass Jesus Land und Meer souverän beherrscht – aber Flüsse, Seen, Häuser, Amphitheater und Menschen ausgenommen sind. Land und Meer stellen gegensätzliche Elemente der Schöpfung dar, die im Merismus zusammengefügt werden um auszudrücken: Christus herrscht souverän über Land und Meer und alles, aber wirklich alles, was „dazwischen“ ist: jedes Tier, jede Nation, jeden Kaiser und jeden Dämon! Andererseits kommen die Erzfeinde von Christus in der Offenbarung aus Meer und Land: Der Drachen „steht auf dem Sand des Meeres“ (Offb. 12, 18), um das Tier aus dem Meer hervorzuholen (Offb. 13, 1) und das Tier aus der Erde (Offb. 13, 11). Noch bevor diese satanischen Gegenspieler von Christus (welche die weltweiten, trans-historischen staatlichen und religiösen Institutionen dieser Welt in Opposition zu Christus symbolisieren) überhaupt in der Offenbarung auftauchen, wissen wir also, dass Jesus souverän über sie herrscht. Egal welches übles Chaos sie anrichten: Keines ihres satanischen Wirkens ist außerhalb der uneingeschränkten souveränen Herrschaft von Christus. Christus beherrscht Drachen und Teufel, Nationen und ihre Regenten. Die Weltgeschichte ist unter seiner Kontrolle.

Und damit sind wir bei einer der wichtigsten theologischen Aussagen der Offenbarung angekommen. Schau dir noch mal die Silberscheibe des Kaisers oben an: Die Waffen und die Köpfe der Barbaren befinden sich unter seinen Füßen. Und jetzt setze Jesus in das Bild. Und unter den Füßen von Jesus: Meer und Land und Völker und Nationen. Das Schicksal jedes einzelnen Menschen und die großen Entwicklungen des Weltgeschichte. Die Zukunft des Universums. Alles, aber auch alles unter seinen Füßen.

Christus regiert ist das zentrale theologische Thema der Offenbarung. In Offenbarung 1, 17 und 2, 8 trägt Jesus den Titel „Erster und Letzter“. Es ist ein Gottestitel, welcher in Jesaja 41, 4; 44, 6 und 48, 12 Gottes souveräne Rolle in der Geschichte darstellt. Er beschreibt die absolute Erhabenheit Gottes als Schöpfer aller Existenz und souveräner Beherrscher der Geschichte. In Jesaja erscheint der Titel explizit dann, wenn Gott unter Beweis stellt, dass er der alleinige Gott und sowohl Ursprung als auch Ziel der Schöpfung ist, welche er allein souverän lenkt.

In Offenbarung 22, 13 trägt Christus die drei synonymen Titel Alpha & Omega, Erster & Letzter, Anfang und Ende. Sie beschreiben jeweils (wieder im literarischen Stil des Merismus), dass Christus der souveräne Herrscher der Geschichte ist und dass seine regierende Macht allumfassend ist.

In Offenbarung 5 erhält Christus von Gott dem Vater das Erbe der Regentschaft des Universums symbolisiert in der Form einer Schriftrolle. Kapitel 5 will damit sagen, dass Christus die Weltgeschichte lenkt und die Pläne Gottes mit dem Ziel eines wiederhergestellten Paradieses umsetzt. Er ist das Lamm, welches jetzt als Löwe regiert. Ab diesem Kapitel ist das Lamm uneingeschränkter Co-Regent mit Gott dem Vater auf dem Thron (Offb. 7, 9, 17; 22, 1, 3). Wenn irgendetwas in der Offenbarung dem Leser vermittelt werden soll, dann ist es die Vision des regierenden Lammes: Egal wie groß der Widerstand gegen die Gemeinde auf der Erde ist. Egal, wie sehr Politik über christliche Lehre und Werte lästert. Egal, welches persönliche Chaos Christen erleben: Es gibt nicht eine Sekunde in der Weltgeschichte, wo Christus nicht sagt: „Alles, aber auch alles ist unter meiner souveränen Kontrolle.“ Er lenkt vom brutalsten Diktator bis zur hingegebenen Gemeinde (wenn auch auf verschiedene Weise) alles hin zum perfekten glorreichen Ziel: Keine Träne ist sinnlos vergossen, kein Leid bedeutungslos ertragen, keine Mühen für Christus und sein Reich vergebens eingesetzt: Alles, aber wirklich alles liegt im Einflussbereich der Vorsehung des regierenden Christus, der alle Dinge nach dem Wohlgefallen Seines Willens lenkt. Zu unserem Guten und zu Seiner großen Ehre.

Um dies dem Volk Gottes zu zeigen, ist der „Engel des Herrn“ in Offenbarung 10 gekommen. Nicht um zu baden. Johannes will nicht so simpel sein und alle fünf Verse wiederholen: Christus regiert! Eine Wahrheit zu plump geäußert, drückt nicht adäquat die Tiefen und die Exzellenz göttlicher Herrschaft aus. Aber weil es stimmt und wir immer wieder daran erinnert werden sollen, bringt Johannes kreative Bilder ins Spiel und lässt selbst einen Engel „mit einem Fuß im Wasser“ kommunizieren: Dein Herr regiert!

Nachtrag: Weil ich weiss, dass einige von euch das trotzdem fragen: Offenbarung 10 schliesst nicht notwendigerweise aus, dass Engel nicht baden können. Wie nicht-materielle Wesen mit materiellem Wasser interagieren können werden wir sehen, wenn es soweit ist. Wenn Christus seine herrliche Kraft als universeller Regent benutzt hat, um das Universum in ein ewiges Paradies zu verwandeln. Soli Deo Gloria.


Beitrag veröffentlicht

in

, , ,

von

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert