Kindlich Bibel lesen… was soll daran falsch sein?

Ein guter Freund wollte mich vor kurzem davon überzeugen, dass „kindliches Bibellesen“ die beste Art ist, dem Wort Gottes zuzuhören. Falls man mal einen Fachausdruck für „kindliches Bibellesen“ sucht, wäre „intuitives Lesen“ wahrscheinlich eine gute Wahl. Die Herangehensweise ist dabei, dass man einen Vers oder Passage aus der Bibel liest, und was immer man intuitiv (ohne viel Nachforschen) versteht oder fühlt, wird als das Reden Gottes angesehen. Das scheint auf ersten Blick eine gute Sache zu sein: denn welcher Christ will nicht einen „kindlichen“ Zugang zu Gott. „Kindlich“ klingt demütig, aufrichtig, ohne falsche Motive. So was kann nicht verkehrt sein.

Ich bin trotzdem nicht beeindruckt. Intuitives Lesen ist nämlich eher „Babyhaft“ als „Kindlich“. Also man hat von der Art, wie Gott will, dass wir mit seinem Wort umgehen, keine Ahnung. Intuitives Lesen hat einen eingebauten Fehler, nämlich die (falsche) Annahme, dass „unbedarftes Lesen“ „unvoreingenommenes Lesen“ bedeutet. Dem ist aber ganz und gar nicht so, denn gerade der Leser, der denkt, dass er nichts braucht, als den reinen (übersetzten) Bibeltext, merkt gar nicht, dass er eine ganze Last an Voreingenommenheit mit sich bringt: Voreingenommen, welche Assoziationen die übersetzten Worte bei ihm auslösen, voreingenommen von seiner Kultur, was Bilder und Illustrationen in seinem Kontext bedeuten, voreingenommen, was er hören will und was nicht. Gerade wer davon überzeugt ist, dass er „kindlich“ liest, merkt nicht, dass er mit einer Brille den Text liest, die alles verzerrt! 

Denn Gott hat, als er Sein Wort gesprochen und durch souveränes Wirken mit menschlichen Autoren in Schriftform festgehalten hat, in die Zeit der damaligen Autoren gesprochen. Und die hatten oft ganz andere Assoziationen und ein nuancierteres Verständnis derselben Texte, die wir heute lesen! Wer im Neuen Testament von Priestern liest, verbindet im 21. Jahrhundert eher damit Menschen in schwarzer Kutte aus der Katholischen Kirche, vielleicht sogar in Missbrauchsskandale involviert. Ein Priester im ersten Jahrhundert war jedoch eine Person von enormem Prestige, zumeist unwahrscheinlich reich, aus der sozialen Elite des jeweiligen Landes und ausgestattet nicht nur mit religiösen Befugnissen, sondern politischem Einfluss. Ein Priester war eine beeindruckende, ehrerbietende Persönlichkeit.

Die Assoziationen, die Gott mit dem Wort „Priester“ im Neuen Testament auslösen will, haben aber nichts mit unseren Vorstellungen zu tun, sondern alles mit den Vorstellungen, wie „Priester“ im 1. Jahrhundert verstanden und „gefühlt“ wurde. Wer also Gottes Wort in seinem Leben hören will, kann nicht intuitiv lesen, sondern muss mit der Einstellung lesen „Wie haben das die Leute im ersten Jahrhundert“ verstanden.

Jede Kommunikation – auch die Kommunikation zwischen Gott und Menschen – basiert auf dem Prinzip, dass Sender und Empfänger den gleichen Wortschatz teilen und dass der Sender seine Botschaft an das Verständnis des Empfängers anpasst. Wenn ich mit meinen Persischen Freunden spreche (die schon recht gut Deutsch können) verwende ich nicht Worte wie „kongruent, derivativ, Kartoffelerntemachinenfahrerausbildungskostenantrag.“ Ich passe meine Wortwahl an ihren Wortschatz an. Genau das hat Gott getan. Er hat seine Worte an den Wortschatz seiner ersten Zuhörer in der Antike angepasst und nicht an deinen Wortschatz! Natürlich versuchen Übersetzer die Brücke in deine Welt zu schlagen, aber dennoch brauchen wir die Sensibilität bei jedem Lesen zu fragen: „wie haben die Christen im ersten Jahrhundert diese Passage verstanden.“ Erst wenn ich weiß, wie der Autor im ersten Jahrhundert seine Botschaft bei seiner ursprünglichen Audienz verstanden haben wollte, weiß ich, was er in mein Leben sprechen will. 

Das bedeutet nicht, dass jeder Christ erst ein langjähriges Linguistik- und Sozialkundestudium der Antike absolvieren muss, bevor er die erste Seite der Bibel umschlagen darf. Wie gesagt, die Übersetzer der Bibel haben gute Arbeit geleistet, dir das Hebräisch oder Griechisch der alten Schriften verständlich zu machen. Und in vielen Bereichen gleicht dein Verständnis dem Verständnis antiker Leser. Du weißt – genau wie sie -,  was „Auferstehung der Toten“, „am dritten Tag“, „Grab ist leer“ bedeutet.

Aber obwohl es viel Überschneidung im Verständnis von Worten im ersten und einundzwanzigsten Jahrhundert gibt, ist dies nicht immer der Fall und der antike Leser hört gelegentlich anders als du. 

Wenn wir die Grußworte von Paulus aus 1 Tim. 1, 2 hören „Gnade, Barmherzigkeit, Friede von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, unserem Herrn!“ hört der „kindliche Leser“ des 21. Jahrhunderts vielleicht, dass Jesus Christus NICHT Gott, sondern „nur“ Herr ist, denn als Gott wird nur „der Vater“ bezeichnet. Christen im ersten Jahrhundert hören aber genau das Gegenteil! Ihnen wird sofort bewusst, dass sowohl der Vater als auch der Sohn allmächtiger Gott sind. Sie verbinden eben mit den Worten andere Assoziationen als du. Sie haben ein Hintergrundverständnis, welches du nicht hast. Sie sind (wenn sie Juden waren) aufgewachsen mit dem Lesen der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments. Da wurde der hebräische Name Gottes aus dem Alten Testament Yahweh Adonai in ihrer Bibel übersetzt mit theos kurios (Gott Herr). Sowohl theos (Gott) als auch kurios (Herr) waren Worte, mit denen Gott bezeichnet wurde. 

Genau diese Vertrautheit mit den Worten theos kurios (vertraut aus der Kindheit und des wöchentlichen Lesens in der Synagoge) beinflußte, wie die ersten Christen das theos kurios im Brief des Paulus verstanden. Wenn Paulus jetzt den Vater mit theos (Gott) und den Sohn mit kurios (Herr) bezeichnet, war allen sofort glasklar: Sowohl der Vater als auch der Sohn sind gleichermaßen Gott Allmächtig, den man aus der Septuaginta schon kannte. Auch der Rest der Grammatik des Satzes unterstützt dieses Verständnis: denn die Dinge, die im Alten Testament in Gott ihren Ursprung haben (Gnade, Barmherzigkeit, Frieden) kommen nicht nur von Gott dem Vater, sondern vom Vater und vom Sohn gleichermaßen. Eine Präposition apo („von“) verbindet Vater und Sohn als der ebenbürtige Ursprung von Gnade, Barmherzigkeit und Frieden.1 Antikes Lesen, nicht kindliches Lesen lässt uns Jesus entdecken, wer er wirklich war!

Wer intuitiv die Bibel liest, wird wahrscheinlich trotzdem viele Schätze aus Gottes Wort für sein Leben mitnehmen. Die Übersetzer der Schrift haben ihr Bestes getan, Formulierungen zu finden, die helfen, selbst Neulesern Zugang zur Bibel zu ermöglichen.

Aber wer sich darauf eingeschworen hat, dass intuitiv zu lesen  „die einzig richtige“ Art ist, wird an vielen Stellen am Sinn dessen, was Gott kommunizieren will, völlig vorbei rasseln. Intuitives Lesen macht es auch unmöglich, als Gemeinschaft auf der Suche nach Wahrheit unterwegs zu sein. Denn wie soll man vorgehen, wenn zwei Menschen die Bibel „kindlich“ lesen und unterschiedliche Dinge aus dem Text hören, die beide nicht gleichzeitig wahr sein können? Eine Diskussion und ein gemeinsames Forschen, was der Autor gemeint hat, als er den Text geschaffen hat, ist gar nicht mehr möglich. Die Möglichkeit, dass „mein kindliches Lesen“ nicht der Absicht des Autors entspricht, wird nämlich gar nicht in Betracht gezogen. Es ist „mein Verständnis“, „mein Gefühl“, was ultimatives Kriterium dafür geworden ist, was der Text bedeutet. Kriterium für Wahrheit ist aber nicht „mein Gefühl“, was ich denke, was der Text sagt, sondern die Frage der ursprünglichen Absicht des Autors.

Deshalb ist „kindliches“ Lesen auch überhaupt kein Lesen im Sinne von demütig kindlichem Lesen, sondern ziemlich arrogantes Lesen. Es setzt die eigene Interpretation als Maßstab aller Dinge an ohne dass die Möglichkeit gegeben wird, dass das eigene Verständnis hinterfragt werden muss. 

Die Art, wie Gott möchte, dass wir sein Wort lesen, ist „antikes Lesen“. Es erfordert ein kennenlernen und hinein versetzen in antike Sprache, Kultur und soziale Gegebenheiten. Die in charismatischen christlichen Kreisen oft zitierte Behauptung „Gott muss auch ohne viel Nachdenken zu mir reden“ ist falsch. Muss er nicht. Gott benutzt unseren Verstand (2 Tim. 2, 7), gute Lehrer (Röm. 12, 7) und unser intensives Suchen nach Verständnis der Wahrheit (Apg. 17, 11) um Gottes Stimme in unserem Leben zu hören. Antikes lesen ist alternativlos. 

Antikes Lesen ist keine Last. Ja, es fordert ein gewisses Interesse, Willen und Drang, Wahrheit herausfinden zu wollen (2 Tim. 2, 15). Und diese Wahrheit eignet man sich oft nicht intuitiv an. Aber es ist der „ich-will-es-herausfinden-“ Drang, den Gott benutzt, um sich uns zu offenbaren und eine kostbare Freude zu vermitteln, wenn man etwas im Wort Gottes entdeckt hat, was nicht gleich so offensichtlich rum lag. Obwohl die Wahrheit des Evangeliums für alle klar und deutlich offenbar ist, wirft Gott seine Perlen nicht vor Säue. Er will gesucht werden, um gefunden zu werden. Er will unseren Forscherdrang nach Wahrheit als Voraussetzung, sich zu offenbaren. Man kann im Wort Gottes entweder ohne viel Aufwand herumblättern oder Energie dafür einsetzen, die manchmal schwierigen Passagen zu verstehen (2 Pet. 3, 16). John Piper hat mal angemessen illustriert „Das Harken im Wort Gottes ist einfach, aber man bekommt nur Blätter; das Graben ist schwer, aber man findet vielleicht Diamanten.“2 

Viel Freude beim Graben im Wort Gottes durch „antikes Lesen“. Die Diamanten sind echt der Wahnsinn.

Eine Illustration für antikes Lesen erwartet uns im nächsten blog.

1 Jeffrey Weima, Paul the Ancient Letter Writer, 43.

2 John Piper, Future Grace, 10.


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