Echte, falsche oder misslungene Anbetung?

Singen von Liedern im Gottesdienst ist noch lange keine Anbetung! Das wusste Gottes Volk spätestens in dem Augenblick, als der Prophet Maleachi der anbetenden Menge Gottes Meinung über ihre „Anbetung“ zurief: „Könnte mal bitte jemand die Tempeltüren zumachen, ich kann das Gejaule nicht mehr ertragen!“ (Mal. 1, 10) Das war zumindest die Intention des prophetischen Wortes von Gott, wortwörtlich liest es sich so:

Wäre doch nur einer unter euch, der die beiden Torflügel zuschlösse, damit ihr nicht umsonst auf meinem Altar Feuer anzündet! Ich habe kein Gefallen an euch, spricht der HERR der Heerscharen, und an einer Opfergabe aus eurer Hand habe ich kein Wohlgefallen. Denn vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang wird mein Name groß unter den Nationen sein. Und an allerlei Orten wird man wohlgefälligen Opferrauch aufsteigen lassen und meinem Namen Gaben darbringen, und zwar reine Opfergaben. Denn mein Name wird groß sein unter den Nationen, spricht der HERR der Heerscharen.

Mal. 1, 10-11

Die Tore, die Gott hofft, dass sie mal jemand zumacht, sind nicht die Tore zum überdachten Allerheiligsten des Tempels denn Maleachi geht es um Opfer, welche außerhalb, im Vorhof dargebracht wurden. Die Tore welche Gott wünscht, dass sie geschlossen werden, sind der Zugang zum Ort des Opfers und der Anbetung überhaupt.1 Gott will lieber, dass der Tempel-Komplex zugemacht wird und keiner anbetet, als dass die Anbetung weiter geht, die ihn entehrt. Dabei geht es letztendlich Gott nicht darum, dass gar keine Anbetung statt findet, sondern dass unechte Anbetung aufhört. Bevor man den Text aus Meleachi in die Kategorie „zorniger Prophet spricht zu bösen Israeliten wie üblich“ und für uns als irrelevant abschiebt, lohnt es sich vielleicht doch, uns mal zu hinterfragen, wie unsere Gewohnheit der wöchentlichen Anbetung im Gottesdienst von Gott selbst wahrgenommen wird. Könnte es sein, dass Gott zu Christen und Kirchen heute spricht: „Macht das Licht aus, stellt den Strom ab und geht nach Hause, denn das was hier abgeht ist gruselig in meinen Augen und Ohren!“?

Im Kern der Beanstandung von Maleachi stand natürlich der Mangel an moralischer Transformation der Anbeter im Angesicht der Großartigkeit Gottes! Drei mal erwähnt Gott in Maleachi 1, 11-14, dass sein Name (sprich, seine Wesensart, sein Charakter, dass was Gott ausmacht) großartig ist. Unser Leben und unsere Anbetung muss auf die Großartigkeit des Charakters Gottes angepasst sein, damit Anbetung echte Anbetung ist. Auch wenn es für echte Anbetung von enormer Bedeutung ist, geht es mir im folgenden nicht so sehr darum, dass Anbetung die Willigkeit zur Veränderung unseres Lebensstils in seine Vorstellungen bedingt. Ein weiterer Aspekt ist ebenso wichtig, welcher den entscheidenden Unterschied zwischen falscher, misslungener oder echter Anbetung ausmacht – und zwar die Musik und die Texte an sich, die wir in der Anbetung im Gottesdienst singen. Wenn gemäß Maleachi echte Anbetung die Großartigkeit unseres exzellenten Gottes wider spiegelt, muss das, was am Sonntag zwischen zehn und zehn Uhr dreißig gesungen, gesummt oder gebrummt wird, eine Reflexion der Genialität Gottes sein. Echte Anbetung oder nicht!

Eines der Dinge, die ich an meiner eigenen Gemeinde liebe, sind die exzellenten Zeiten hingebungsvollen Lobpreises im Gottesdienst. In all den Jahren, in denen ich Gemeindemitglied der Jesus Gemeinde Dresden bin, habe ich nicht einen Sonntag erlebt, an welchem eine Bühnenshow mit Fokus auf die Fähigkeiten oder Ehre der Musiker statt fand. Ganz im Gegenteil: alle unsere Musiker und Sänger haben einen echten Hunger danach, Gott und Seine Gegenwart zu erleben. Es ist unter anderem diese innere Einstellung und die Art der Lieder, welche das reine musikalische Begleiten von lyrischen Texten zu hingebungsvoller Anbetung transformiert.

Die Auswahl von Liedern für den Gottesdienst ist bei uns ein eher intensiver Prozess. Die Komplexität adäquate Lieder für den Gottesdienst auszusuchen liegt darin zugrunde, dass seit vielen Jahren zwar einerseits der Boom an attraktiven Melodien Christlicher Lieder anhält, andererseits aber der theologische Wert der Liedtexte im Durchschnitt eher abgenommen hat, um nicht zu sagen, dass eine Unmenge der aktuellen Anbetungssongs theologisch inhaltslos oder sogar fehlerhaft ist.

Um eine gute Auswahl von Liedern für die Anbetung vorzunehmen, oder um wertvolle Anbetungslieder selbst zu schreiben muss man verstehen, was im Kern Christliche Anbetung ausmacht. Kolosser 3, 16 ist ein Fenster in die Welt des ersten Jahrhunderts, welcher uns verstehen lässt, welche Werte der ersten Christen zentral für Anbetung waren.

Der Text sagt folgendes:

Das Wort des Christus wohne reichlich in euch: in aller Weisheit lehrt und ermahnt euch gegenseitig mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern singt Gott in euren Herzen in Gnade.

Kol. 3, 16

Egal wie akkurat unser Verständnis der präzisen grammatikalischen Verknüpfung der einzelnen Satzteile in Kolosser 3, 16 ist, zwei Dinge sind über die Details hinweg leicht nachzuvollziehen: erstens, das Haupt-Verb im Satz ist das Griechische Wort enoikeiteoo, also „wohnen“ in „das Wort des Christus wohne reichlich in euch. Alle anderen Verben der deutschen Übersetzung („lehren,“ „ermahnen,“ „singen“) sind im Griechischen Text Partizipien, also eine Art sekundäre Verbalform, welche hier beschreiben, auf welche Art das Wort des Christus in der Gemeinde „wohnt“. Zweitens folgt das dritte Partizip („singen“) den ersten beiden („lehren“, „ermahnen“) ohne ein Verknüpfungswort wie zum Beispiel „und“ (Gr. kai). Dies bedeutet, dass zwischen „lehren“ und „ermahnen“ und „singen“ kein Bruch erfolgt, als ob das Wort des Christus in Lehre und Ermahnung eine Sache wäre und das Singen eine ganz andere. Das Wort des Christus wohnt in der Gemeinde durch das Singen und singen ist auch die Art, durch welche die Lehre und Ermahnung im Wort von Christus erfolgt!2

Mit einer etwas freieren Übersetzung kann man das Erstaunliche, was Paulus hier in diesem Vers sagt, gut beschreiben: „Das Wort von Christus wohne reichlich in euch indem ihr euch Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder mit Gnade im Herzen zusingt und ihr euch dadurch lehrt und ermahnt.“

Im Zentrum von Anbetung (Psalmen, Hymnen, geistliche Lieder) im Christlichen Verständnis steht also, dass es ein Ausdruck des „wohnens des Wortes von Christus inmitten der singenden Gemeinde ist“! Das „Wort des Christus“ beschreibt die Botschaft über Christus, also wer Jesus in seiner grandiosen Vorrangstellung ist, was Christus außergewöhnliches am Kreuz für uns getan hat und wie man im Vertrauen allein auf Christus den Reichtum der Konsequenzen seines Werkes am Kreuz im eigenen Leben annimmt. Was genau das „Wort des Christus“ ist, kann auf eindrückliche Art in den ersten beiden Kapiteln des Kolosserbriefes entdeckt werden.

Paulus verwendet das Wort „wohnen“ (Gr. enoikeitoo) oft im Sinne einer „permanenten Niederlassung“ (Röm. 8, 11; 2 Kor. 6, 16; 2 Tim. 1, 14; ) und so auch hier in Kolosser 3, 16. Die Botschaft von Christus soll einen zentralen und beständigen Platz in der Gemeinde einnehmen und keine nebensächliche oder oberflächliche Anmerkung sein. Tiefes und durchdringendes denken, verstehen und kontinuierliches nachsinnen über die reichen Facetten wer Christus ist und was er getan hat, soll die transformierende Kraft der Botschaft in der Gemeinde entfalten – und Anbetung spielt dabei eine maßgebende und nicht zu vernachlässigende Rolle.

Der theologische Inhalt von Anbetungsliedern als Ausdruck des „Wortes von Christus“ muss also akkurat und möglichst umfassend die authentische Lehre wider spiegeln, wer Christus in seiner Grandiosität ist und welche Bedeutung er für unser Leben hat. Wer Christliche Lieder zum Singen für die Gemeinde schreibt, oder diese für den Gottesdienst auswählt hat also eine primäre Verantwortung dafür, dass diese Lieder inhaltlich geistliche Realität adäquat repräsentieren. Es ist also die Verantwortung der Lobpreisleiter, Wahrheit in den Verstand und die Herzen der Gemeinde einzupflanzen: Wahrheit darüber, wer Christus, der Vater und der Heilige Geist ist. Wahrheit, die Biblisch akkurat beschreibt, was Christus getan hat, wer er für uns ist. Wahrheit darüber, wie Gottes Wirken und Seine Verheißungen durch Vertrauen in Seinen Sohn in unserem Leben wirksam werden.

Wie in einer guten Predigt besteht Anbetung aus einer potenziell explosiven Mischung zwischen Treue und Kreativität. Die wunderwirkende Kraft Gottes entfaltet sich, wenn Treue zur Biblischen Botschaft und Kreativität in der Präsentation jeweils ihren angemessenen Platz finden. Mit eindringlicher Ernsthaftigkeit drängen die Schreiber des Neuen Testaments dazu, dass die ursprüngliche Nachricht, wer Jesus ist und was er getan hat, nicht verfälscht, verkürzt, verwässert wird. Wer die Nachricht des Neuen Testaments kennt und sie verbreitet hat eine Verpflichtung als Botschaftsübermittler und Anvertrauter eines kostbaren Gutes treu mit dieser Botschaft umzugehen: „Dafür halte man uns: für Botschaftsübermittler Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes. Übrigens sucht man hier an den Verwaltern, dass einer treu erfunden werde.“ (1 Kor. 4, 1-2) Gott sucht keine kreativen Verkündiger im Sinne dass neue Ideen über Gottes Wesen und unsere Beziehung mit Ihm die Menschheit bereichern sollen. Gott sucht kompromisslose Verwalter, welche die Botschaft akkurat und haarscharf verständlich inhaltlich so verkündigen, wie die Intention der Schreiber des Neuen Testaments dies erfordert. Kreativität hat in diesem Territorium ein Eindringling und hat dort nichts zu suchen. Wo Kreativität ihre angenehme Kraft entfaltet, ist wenn sie die Wege, Mittel und sprachliche Präsentation beeinflusst, wie die unveränderliche Botschaft heute gepredigt und gesungen wird.

Damit Christus geehrt wird ist es nicht genug, die Wahrheit über Ihn zu kennen, sondern die Wahrheit darüber, wer er ist, muss geliebt und genossen werden! Musik mit seiner einzigartigen Fähigkeit die Herzen emotional zu berühren findet hier in der Anbetung die Erfüllung ihrer höchsten Berufung: sie bringt das Herz dazu, Christus zu genießen, sich an Ihm zu erfreuen, Hoffnung auf zukünftige Herrlichkeit zu spüren und den Menschen im innersten mit Gefühlen zu packen, welche die adäquate Antwort des Herzens auf den Wert von Christus sind.

In der echter Anbetung entdeckt der Verstand den kolossalen Wert von Gottes Sohn und reflektiert die Wertschätzung des Gesehenen durch Freude am Wert von Christus an Gott zurück. Emotionale Eindrücklichkeit von Musik allein ist noch keine Anbetung: sie putscht zwar den Hörer emotional auf, lässt ihn jedoch langfristig leer und frustriert zurück, weil ein Genießen höchsten Gutes nicht möglich war; noch ehrt es Gott, weil Emotionen zwar reichlich vorhanden waren, aber nicht als adäquate Antwort auf das Wertschätzen Seines exzellenten Wesens. Die Verantwortung von Anbetungsleitern ist Emotionen hervor zu bringen, aber nicht Emotionen auf eingebildete Dinge, sondern als Antwort auf Biblisch treue Wahrheit, wer Christus ist. Ziel ist es authentische emotionale Zuneigung zu Gott hervor zu rufen, die ihre Wurzel in Realität, in Wahrheit hat. Das und nicht weniger ist unabdingbarer Standard beim schreiben, bei der Auswahl und beim singen von Lobpreisliedern.

Auf Dichtern von Lobpreisliedern liegt eine große Verantwortung und ein großartige Berufung. Sie prägen potentiell mit einem Lied langfristig mehr als eine Predigt oder ein Buch dies leisten kann. Lobpreislieder werden (zurecht) wiederholt gesungen, gelernt und wieder gesungen und haben mehr Potential, theologische Überzeugung von Menschen zu prägen als jedes andere Medium der Kommunikation. Wenn eine Predigt schon anstrengende Mühen und Arbeit ist (1 Thes. 5, 12) – ein intensives Ringen um theologischen Inhaltsreichtum mit Akkuratesse und eindrücklicher Kreativität, wie viel mehr ist es die Aufgabe von songwritern für theologische Präzision und inhaltliche Gewichtigkeit eines Liedes zu ringen.

Spontane Inspiration und zielgerichtete Überarbeitung schließen sich bei der Entstehung von Anbetungsliedern nicht aus.3 Poetische Freiheit und klar ausgedrückte Präzision rangeln vielleicht miteinander, sind aber keine Feinde. Beides sollte so ausgewogen vorhanden sein, dass der Liedtext sofort als klar kommunizierte Wahrheit erkennbar und mit Freude an der kreativen Ausdrucksform gesungen werden will. Eindeutigkeit in der Wahrheitskommunikation ist dabei die Aufgabe des Liedschreibers und ist nicht der Interpretationsfähigkeiten des Publikums aufzubürden. Die meisten Gottesdienstbesucher haben nicht die Fähigkeit (und erst recht nicht die Zeit) die Bedeutung der Lyrik zu hinterfragen. Es ist weiterhin die Aufgabe des Songschreibers Missinterpretation aufgrund von Zweideutigkeit klar durch die Wortauswahl zu verhindern. Eine Predigt kann revidiert werden, eine zweite Predigt eine Unausgeglichenheit der vorherigen ausgleichen – ein Lied aber wird gesungen und dabei bleibt es. Es wird bei der ersten Konfrontation mit dem Text verstanden oder nicht (ich weiß, poetische begabte Lobpreiser ticken anders, aber die Mehrzahl von uns hat ein einfacheres Gehirn). Erklärungen sind fast nie möglich und der Mitsinger ist seinem eigenen Schicksal überlassen, wie er die Textzeilen im ersten Augenblick inhaltlich deutet. In meiner Erfahrung hinterfragen die wenigsten Gottesdienstbesucher Liedtexte. Der Text wird entweder verstanden, bejaht und mitgesungen oder (und das ist dies ist das kleinere Übel) verstandlos nachgesungen. Entweder der Text ist klar und der Verstand folgt ihm oder der Text wird unklar und aufgrund der schnellen Weiterfolge der Gedanken und des Eingenommensein von der Musik setzt der Verstand einfach aus. Zu erwarten, dass Anbeter sich intellektuell um die beste Auslegung eines Textes während des Singens bemühen ist utopisch! Im harmlosesten Fall hat man die meisten Gottesdienstbesucher einfach intellektuell verloren und sie öffnen zwar weiter ihren Mund und wippen ihre Hüften, sind aber in Gedanken ins Traumland abgedriftet. Im schlimmsten Fall sind die Schreiber für schadenbringende Überzeugungen von Menschen in der Gemeinde verantwortlich, die schwer wieder zu beseitigen sind.

Hat man erst mal als Gemeinde ein theologisch mangelhaftes Lied im Liedgut, gibt es nur zwei Alternativen: raus werfen oder umschreiben. Die dritte, nämlich inhaltlich falsche Lehre einiger weniger Zeilen auszublenden und sich auf die theologisch orthodoxen Zeilen zu beschränken ist keine Option. Ein wenig Sauerteig verdirbt den ganzen Teig! „Hauptsächlich gut“ disqualifiziert das ganze Lied. Das Testen des Liedes und das festhalten am Guten findet vor dem Singen des Liedes statt und nicht danach. Die ultimative Verantwortung, was inhaltlich in der Gemeinde gesungen wird, liegt in der Autorität der Pluralität der Ältesten in der Gemeinde, welche die Aufgabe für die Bewahrung der Wahrheit von Gott übertragen bekommen hat (Heb. 13, 17). Die Ältesten tragen ultimative dann dafür die Verantwortung, welches Liedgut übernommen, gestrichen, modifiziert und gesungen wird.

Echte Anbetung gemäß Kolosser 3 ist das Singen von Liedern, welche Christus in Seiner Vorrangstellung als exzellenter Gott und Retter erhöhen. Echte Anbetung ist ein genießen dessen, wer Christus für uns ist und was er für uns getan hat – dieses genießen passiert in der Anbetung in dem Augenblick, wo die Größe unseres Gottes akkurat und klar im Liedtext präsentiert, intellektuell vom Hörer verstanden und mit freudiger Zustimmung im Herzen zu Gott zurück gesungen wird. Echte Anbetung ist dann sowohl die Freude an unserem einmaligen Gott, als auch das Bewusstsein, dass Gottes Gefallen auf dem Anbeter und der Anbetung ruht.

1  Ahaz tat bereits genau das, was Maleachi wünscht, er schloss die äußeren Tore zum Tempel, allerdings aus anderem Grund – er wollte den Zugang zum Tempel unterbinden und so die traditionelle jüdische Religion der Anbetung YHWHs auslöschen (2 Chron 28, 24). Opfer und Anbetung fanden im jüdischen Tempel (wie in fast jedem anderem Kult der damaligen Zeit) unter freiem Himmel statt. In der Antike war Anbetung ein outdoor-Ereignis.
2 Bezüglich der strukturellen Verknüpfung sind zwei Entscheidungen zu treffen: erstens, modifizieren die Substantive „Psalmen,“ „Hymnen,“ „geistliche Lieder“ die Partizipien „lehren“ und „ermahnen“ oder „singen“? Auch wenn das subjektive logische Gefühl des Lesers des 21. Jahrhunderts intuitiv „Psalmen, Hymnen, Lieder“ mit „singen“ assoziiert, muss dies nicht der Intention des Paulus entsprechen. Die Parallelstelle in Eph. 5, 19 zeigt dass strukturell „Psalmen, Hymnen, geistliche Lieder“ mit dem vorhergehenden Partizip zu assoziieren sind („sprecht zueinander mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern, singt und spielt in eurem Herzen Lieder zu Gott…“). Auch hier in Kol. 3, 16 würde deshalb „Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder“ vorrangig mit „lehren und ermahnen“ zu verknüpfen sein, also wörtlich: „lehrt und ermahnt einander gegenseitig mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern“. Für diese Art der Assoziation spricht weiterhin, dass sie für den Leser des Griechischen Textes zu einer besseren Balance zwischen den Teilsätzen führt und die Abwesenheit von kai vor dem Wort „singen“ erklärt. Die zweite notwendige Entscheidung betrifft die Frage, ob das Partizip „singen“ das Hauptwort „wohnen“ oder die beiden anderen Partizipien „lehren und ermahnen“ modifiziert. Inhaltlich macht es keinen großen Unterschied für welche Variante man sich entscheidet. Bei der ersten wäre das Singen eine weitere Aktivität neben bereits erwähnten lehren und ermahnen mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern als eine Form wie das Wort von Jesus unter uns wohnt; bei letzterem Verständnis würde „singen in Gnade“ noch einmal genauer beschreiben, wie man mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern ermahnt und lehrt. Bei beiden Lesarten wird jedoch deutlich, dass Musik und Anbetung die Art und Weise ist, wie das Wort von Christus unter den Kolossern wohnt.
3 Inspiration im Biblischen Sinn bedeutet nicht eine spontane und anstrengungslose Leichtigkeit im Zustandekommen von Lyrik. Eine Illustration des Gegenteils sind die Kreation des Olney-Hymnen durch John Newton und William Cowper. Die bekannteste Hymne der Christenheit „amazing grace“ ist Teil der Olney Hymnen. Letztere entstanden nicht ausschliesslich durch „spontane Inspiration“, sondern dadurch, dass Newton sich vorgenommen hatte, zur wöchentlichen Predigt bzw. Gebetsstunde eine entsprechende Hymne zur Predigt zum singen zu präsentieren. Die allermeisten der Olney Hymnen sind gegründet in Meditation über den Biblischen Text, der gerade als Predigttext der Woche verwendet wurde. Newton verbrachte dazu diszipliniert täglich Stunden im Gebet und im Studium des Biblischen Textes. Siehe The Works of John Newton, Volume 2 und Jonathan Aitken, John Newton, 2007: 205-229.


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