Nach dem Dankgebet in Kolosser 1, 3-8 geht Paulus in Kolosser 1, 9-14 in ein Fürbittgebet für die Empfänger seines Briefes über. Die Fürbittgebete in den Paulinischen Briefen sind inhaltlich nicht vom eigentlichen theologischen Ziel des Hauptteils des Briefes distanziert, sondern fassen das zentrale Thema der kommenden Kapitel in kondensierter Form zusammen. Dass heisst, im Fürbittgebet erkennt man bereits, welches theologische Thema der Brief als ganzes verfolgt. Was Paulus später als theologische Lösung für pastorale Herausforderungen der Gemeinde ausarbeitet, dafür betet er bereits am Anfang des Briefes.
Aus diesem Grund hören auch wir nicht auf, von dem Tag an, da wir es gehört haben, für euch zu beten und zu bitten, dass Gott euch mit der Erkenntnis seines Willens erfüllt in aller Weisheit und geistlichem Verständnis, 10 damit ihr des Herrn würdig lebt und ihm in allen Dingen wohlgefällig seid – dass bedeutet fruchtbringend in jedem guten Werk, wachsend in der Erkenntnis Gottes, 11 gekräftigt mit aller Kraft nach der Macht seiner Herrlichkeit, zu allem Ausharren und aller Langmut, mit Freuden 12 dem Vater danksagend, der euch qualifiziert hat zum Anteil am Erbe der Heiligen im Licht 13 und uns errettet aus der Macht der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe – 14 in ihm haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden.
Kol. 1, 9-14 (meine Übersetzung)
Grammatikalisch ist das Gebet so aufgebaut, dass Paulus in der Hauptsache dafür betet, dass Gott die Kolosser mit der Erkenntnis seines Willens erfüllt. Je nachdem wie man „in“ (gr. en) im Teilsatz „in aller Weisheit und geistigem Verständnis“ übersetzt, kommt diese Erkenntnis entweder durch Weisheit und vom Heiligen Geist gewirktes Verständnis oder die Erkenntnis wird beschrieben als Weisheit und vom Heiligen Geist gewirktes Verständnis. Der Unterschied zwischen diesen beiden Interpretationen ist nicht besonders bedeutsam. Wichtig ist festzuhalten, dass Paulus dafür betet, dass aufgrund von Gott-gewirkter Weisheit die Kolosser mit den Willen Gottes erfahren und verstehen.
Das Resultat des Erfülltseins mit der Erkenntnis des Willens Gottes besteht darin, dass der „mit Erkenntnis Seines Willens erfüllte Christ“ dem Herrn würdig lebt. Das Verb „leben“ wird dann im folgenden mit vier Partizipien erklärt, es wird also beschrieben, was Paulus unter einem dem Herrn würdigem Leben versteht:
a) fruchtbringend in jedem Werk zu sein; b) in der Erkenntnis Gottes wachsen; c) unter Druck geduldig ausharren; d) dem Vater danken.
Nach der Beschreibung, dass einer der Eigenschaften eines dem Herrn würdigen Lebens, Danksagung ist, wird von Paulus der Grund (also der Inhalt) der Danksagung beschrieben. Die Kolosser sollen hier nicht danken für Bewahrung, Heilung, Versorgung, und so weiter. sondern dafür, dass Gott durch Christus die Kolosser bereits jetzt zu einem Anteil am zukünftigen Erbe der Herrlichkeit qualifiziert hat: „dem Vater danksagend, der euch qualifiziert hat zum Anteil am Erbe der Heiligen…“
Was ist der Wille Gottes?
Das zuerst recht unübersichtliche Konvolut von Anhäufungen an Satzteilen wofür und warum Paulus für die Kolosser betet kann in einer kleinen Strukturübersicht recht schnell vereinfacht schematisch dargestellt werden:
Paulus betet im Kern für das Erkennen des Willens Gottes. Wenn die Kolosser den Willen Gottes verstehen, wird dies dazu führen, dass als Konsequenz dessen die Kolosser ein dem Herrn würdiges Leben führen. Paulus beschreibt dabei fast so eine Art „geheime Kraft“, die am wirken ist, wenn Christen den Willen Gottes erkennen. Die Erkenntnis des Willens Gottes selbst bewirkt ein würdiges Leben für Gott. Im Falle, dass der Leser fragt, wie denn ein würdiges Leben für Gott praktisch aussieht, wird dies mit 4 Partizipien beschrieben: ein dem Herrn würdiges Leben beseht darin, dass der Christ in jedem Werk Frucht bringt (also gute Taten wirkt); ein dem Herrn würdiges Leben besteht darin, dass der Christ in der Erkenntnis Gottes wächst (also Gott besser kennen lernt); ein dem Herrn würdiges Leben besteht darin, dass der Christ unter Verfolgung geduldig im Glauben bleibt und ein dem Herrn würdiges Leben besteht darin, dass der Christ dem Vater dankt.
Die Übersicht hilft dem Studierenden des Kolosserbriefes zu verstehen, was Paulus unter „dem Willen Gottes“ überhaupt versteht. Wenn nämlich die Ursache für ein Leben in Dankbarkeit die Erkenntnis des Willens Gottes ist und danach der Grund für die Danksagung angeführt ist, dann sind Ursache und Grund der Danksagung nicht zwei voneinander verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe:
Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, dass der Wille Gottes (den Paulus in Kol. 1, 9 benennt) ist, dass Gott in Christus Menschen dazu qualifiziert, Anteil am Erbe des Himmels zu erhalten.
Der Leser darf also nicht den Fehler machen und voreingenommen behaupten, dass er bereits vor dem Studium des Textes weiss, was Paulus mit dem „Willen Gottes“ meint – weil er den Begriff gewohnheitsmäßig mit „ethischen Anforderungen“ an das Volk Gottes assoziiert. Dies ist an anderen Stellen in den Briefen des Paulus der Fall, zum Beispiel wenn er in 1 Thes. 4, 13 schreibt „dies ist der Wille Gottes: eure Heiligung – dass ihr euch von sexueller Unmoral fern haltet…“ Der Wille Gottes in 1 Thes. 4, 13 ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Willen Gottes in Kol. 1, 9. Im Kolosserbrief besteht der Wille Gottes nicht in moralischen Lebensanweisungen, sondern im souveränen Willen Gottes, durch Christus allein Menschen zum Anteil am Erbe zu qualifizieren. David Garland schreibt dazu:
Der „Wille [gr. thelema] Gottes“ bezieht sich hier nicht darauf, was Gott will dass sie [die Kolosser] tun, sondern bezieht sich auf Gottes Plan der Errettung: Gott hat sie erwählt [gr. ethelesen, gewollt] um unter den Heiden den herrlichen Reichtum des Geheimnisses zu offenbaren, welches ist: Christus in euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit“ (1, 27; siehe 1, 9).1
Paulus schreibt also nicht an die Kolosser: „ich möchte, dass ihr mit Erkenntnis von Gottes Moralanforderungen erfüllt werdet denn dies führt zu einem Leben, was dem Herrn würdig ist“, sondern „ich möchte, dass ihr mit Erkenntnis erfüllt werdet, dass Gott souverän bestimmt hat durch „Christus allein“ Menschen zu einem Anteil am himmlischen Erbe zu qualifizieren, denn dieses Wissen führt dazu, dass der Mensch Gott wohlgefällig lebt.“
Die Dynamik, die dazu führt, dass Menschen Gott in ihrem Lebenswandel gefallen, wird also nicht freigesetzt, indem ethische Gesetze vermittelt werden, sondern indem der Christ eine Sicherheit in Erkenntnis bekommt, dass Gott ihn bereits durch Christus allein rechtlich qualifiziert hat, Erbe des Himmels zu sein. Es ist die Sicherheit zu wissen, bereit durch das Werk von Christus zu Gott zu gehören und bereits jetzt zum himmlischen Erbteil qualifiziert zu sein, welches überhaupt dazu führt, Gott würdig zu leben.
Die Absicht des Gebet des Paulus in Kol. 1, 2-12 ist nicht die Kolosser aufzufordern, sich noch mehr an die Geboten Gottes zu halten, sondern sie zu bestätigen, dass ihr Glaube, dass Christus sie bereits für das himmlische Erbe qualifiziert hat, richtig und gut ist. Im Gegensatz zu jüdischen „Agitatoren“, welche die Kolosser theologisch damit bedrängen, dass die Mosaischen Gebote zum Anteil am Erbe der Heiligen führt (Kol. 2, 8-11, 16-19) argumentiert Paulus (indem er sein bisheriges Evangelium wiederholt), dass nicht ein Mosaischer Regelkatalog (oder erst recht jeder andere Regelkatalog) zu einem Anteil am Erbe des Himmels befähigt, sondern dass der Wille Gottes ist, dass Christus dies tut. Gottes Wille ist es Christus zu erhöhen (Kol. 1, 18) indem er Ihn als das einzige und alleiniges Mittel darstellt, wodurch Menschen zum Anteil am himmlischen Erbe befähigt werden.
Was die Kolosser brauchten ist ein Zusprechen von Mut und Zuversicht, dass ihr Glauben an die gute Nachricht des Evangeliums richtig ist und man dem Druck, der von außen kommt, Regelkataloge zu halten, um den Himmel zu erben, nicht nachgeben muss und soll. Gottes Wille ist es, durch Christus allein Menschen zum himmlischen Erbe zu qualifizieren. Wer Christus vertraut, ist bereits qualifiziert denn es ist Gottes Wille Seinen Sohn zu erhöhen, indem Er der alleinige Verursacher einer Qualifikation für den Himmel ist. Unsere ganze Abhängigkeit von Ihm, ehrt den Sohn und hebt Sein vollkommenes Werk am Kreuz hoch.
Diese Interpretation des Gebet des Paulus wird dadurch als richtig bestärkt, dass die zwei anderen Gebete, welche Paulus im Kolosserbrief aufschreibt, inhaltlich genau dasselbe aussagen! Die drei Gebete im Kolosserbrief (Kol. 1, 9-12; 2, 1-3; 4, 12) sind inhaltlich und linguistisch parallel. Paulus lässt mit der Niederschrift von drei Gebeten nicht ausrichten, welche drei unterschiedlichen Dinge er und Epaphras für die Kolosser beten, sondern Paulus wiederholt mit drei inhaltlich gleich ausgerichteten Gebeten, was der Hauptfokus des Kolosserbriefes ist: eine Stärkung des Glaubens der Kolosser, dass Gott sie bereits durch Christus für ein Leben im Himmel qualifiziert hat.
Denn ich will, dass ihr wisst, welch großen Kampf ich habe für euch und die in Laodizea und alle, die mich nicht [persönlich] von Angesicht zu Angesicht gesehen haben, 2 damit ihre Herzen getröstet werden – in Liebe miteinander verbunden – dass heißt dass sie zu allem Reichtum an Gewissheit des Verständnisses – dass heisst zur Erkenntnis des Geheimnisses [kommen] ,[welches] Christus [ist], 3 in dem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind.
Kol. 2, 1-3 (meine Übersetzung)
Epaphras, der einer von euch ist und ein Sklave von Christus, grüßt euch. Er kämpft allezeit im Gebet für euch, so dass ihr vollkommen (gr. teleioi = qualifiziert zu erben) dasteht – dass heißt vollkommen sicher in allem Willen Gottes.
Kol. 4, 12 (meine Übersetzung)
Im Kern betet Paulus in Kol. 2, 1-3, dass die Kolosser getröstet werden, indem sie Gewissheit über die Zuverlässigkeit des Geheimnisses des Evangeliums bekommen, nämlich Christus. „Christus“ ist dabei die Abkürzung für die theologische Aussage, dass Christus die Hoffnung auf Herrlichkeit ist (Kol. 1, 27), also Christus allein die Garantie dafür ist, bereits jetzt für ein Leben in Herrlichkeit qualifiziert zu sein. In Kol. 4, 12 betet Epaphras dass sich die Kolosser dem Willen Gottes sicher sind – auch hier besteht der Wille Gottes darin, sie in Christus allein zu einem Erbe des Himmels qualifiziert zu haben.
Das große Anliegen des Paulus in seinem ersten Gebet für die Kolosser (und das Hauptanliegen des ganzen Briefes) ist das Bewirken einer Statussicherheit als bereits eingesetzte Erben des Himmels. Theologen nennen dies heute „Heilsgewissheit“. Für Paulus ist die Festigkeit der Heilsgewissheit kein optionaler Segen, den manche Christen genießen dürfen und andere nicht. Es ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Christen überhaupt Gott wohlgefällig leben können.
Erst wenn der Christ sicher weiß, dass er durch Christus allein bereits qualifiziert ist, Anteil am himmlischen Erbe zu erhalten, kann er Gott wohlgefällig leben, indem er kontinuierlich Gott Dank gibt bereits zum Erbe qualifiziert zu sein (Kol. 1, 12). Erst wenn der Christ sicher weiß, dass er bereits durch Christus zum Erbe qualifiziert worden ist, kann der Christ in Erkenntnis darin wachsen, wer Gott ist (Kol.1, 10) – und zwar deshalb, weil die Sicherheit durch Christus qualifiziert worden zu sein überhaupt erst die Gnade und Güte Gottes vermittelt, die geniale Größe Gottes offenbart und seine Hauptansicht, Christus zu erhöhen, überhaupt erst ersichtlich werden lässt.
Die Kolosser litten an einer Zuversichtskrise, ob (im Angesicht des Disputs mit Juden) ihr Glauben an Christus allein genug ist. Paulus beantwortet diese Krise mit dem Kolosserbrief, in welchem er hauptsächlich Symbolsprache aus dem Erbrecht benutzt, um aufzuzeigen, dass die Kolosser bereits in Christus qualifiziert worden sind für ein himmlisches Erbe.2
Und so bete ich auch für dich, dass Gott dir vom Heiligen Geist gewirkte Weisheit und Verständnis schenkt, dass du eine absolut feste Zuversicht des Willens Gottes hast: und zwar dass der Allmächtige Gott Seinen Sohn Jesus als alleinigen Garant eines himmlischen Erbes eingesetzt hat und dass dieser Sohn dich bereits vollständig für das Erbe des Himmels qualifiziert hat. Ich bete für dich, dass dieses Wissen um die große Gnade Gottes, in Christus bereits jetzt einen sicheren Garant für dein zukünftiges Leben in Herrlichkeit zu haben, dich freisetzt, Gott zu lieben und ihm zu dienen; dass du freigesetzt wirst darin zu wachsen, zu erkennen, wie einmalig genial Gott ist; dass du freudig in guten wie in schlechten Zeiten Christus vertraust und ihm nachfolgst und dass du täglich ein freudiges und dankbares Leben leben kannst, weil Christus dir bereits jetzt einen Anteil an zukünftiger Herrlichkeit garantiert. Amen
1 David Garland, „Colossians/Philemon,“The NIV Application Commentary. 1998, 279.
2 Die Bildersprache aus dem Erbrecht ist in dieser Passage gut zu sehen. Zum einen verwendet Paulus das Wort „er hat qualifiziert“ (Gr. hikanooo). Es ist ein Wort, welches unter anderem in der Rechtssprache sein Zuhause hat und bedeutet dort „rechtlich vollkommen qualifiziert zu sein. Siehe Moulton & Milligan, Seite 302 (Eintrag 2427): „wenn Konten verlangt werden, betrachte dich selbst als mit voller rechtlicher Befugnis bis ich komme.“ Zum anderen ist die Wortkombination „Anteil am Erbe“ (Gr. merida tou Kellerraum) eine bekannte Wortschöpfung aus dem Alten Testament und bezog sich dort auf das Landerbe, welcher jeder Stamm nach der Einnahme Kanaans zugeteilt wurde (4 Mose 18, 20; 5 Mose 10, 9; 14, 27; Jos. 13, 1 – 19, 51). Nach dem Exil wurde die Wortkombination für das Erbe über die irdische Geschichte hinaus verwendet, also für das Auferstehungsleben in der zukünftigen Welt (Dan. 12, 13; Weis. 5, 5; 1 Henoch 48, 7; QS 11, 7-8; QH 11, 10-12).
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