Antikes Lesen: Priester sein – holt mich jetzt nicht wirklich ab!

Relief mit Szenen eines Tieropfers. Im Vordergrund ein flamen (Opferpriester) in würdiger Toga und mit Ehrenkranz auf dem Haupt. Hinter ihm, ebenfalls festlich gekleidet und bekränzt, mehrere Liktoren mit fasces. Fragmente des Ara Pietatis, Abguss des Originals (in der Villa Medici). Ara Pacis Museum Rom.

Gleich zu Anfang der Offenbarung finden wir eine Doxologie zu Christus, also ein feierliches Rühmen seiner Herrlichkeit. Der Grund, warum Christus die Macht und die Herrlichkeit in einem enthusiastischen Lobpreis zugesprochen wird, wird kurz vorher genannt: er liebt uns, hat uns von unseren Sünden rein gewaschen und uns zu Priestern Gottes gemacht.

Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit! Amen.“ (Offb 1,5b-6)

Normalerweise funktionieren Doxologien so, dass ein emotionaler Ausbruch von ehrwürdiger Anbetung erfolgt, wenn der Schreiber der Doxologie von der außergewöhnlichen Größe dessen, was Gott getan hat, überwältigt ist. Bei dem Gedanken, dass Christus uns zu Priestern Gottes gemacht hat, konnte Johannes nicht einfach weiter schreiben: Sein Herz war so voller Bewunderung, dass er erst einmal anbeten wollte.

Das können die Wenigsten von uns nachvollziehen. Was in aller Welt ist so besonders daran, Priester Gottes geworden zu sein, dass alle Sicherungen durchbrennen und man inbrünstig anbeten will? Priester sein? Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass ich – wenn ich am Sonntag ins Mikro rufe „Christus hat uns zu Priestern Gottes gemacht“- auch nur einen Halleluja-Ruf aus der Gemeinde zurück erhalte. Priester? Da denken wir doch alle an einsame Männer, gekleidet in schwarze Kutten und an Missbrauchsskandale. Die Attraktivität, Priester zu sein, ist uns komplett verloren gegangen. Und zwar deshalb, weil man mit Priestern heute etwas ganz anderes verbindet, als dies in der Antike der Fall war. Antikes Lesen der Bibel ist hier gefragt, um den Text zu verstehen und emotional nachzuvollziehen.

Priester wurde zur der Zeit, als Johannes schrieb, nur die Elite der Gesellschaft. Priester zu sein war ein Amt höchster Würde. Man wollte Priester sein genau aus einem Grund: Es demonstrierte höchste soziale Stellung und ging einher mit enormem Ruhm und Ehre. Wer Priester wurde, hatte es auf der Karriereleiter des Ansehens ganz nach oben geschafft. Dem Priester galt höchster Respekt, höchste Ehre und Priestersein ging mit unvorstellbaren sozialen Privilegien einher. Ein paar Bilder verdeutlichen das ziemlich gut.

Dies ist das Dionysostheater unterhalb der Akropolis in Athen. In den Theatern der Antike saß man nicht wahllos mit freier Sitzplatzwahl und auch nicht gemäß Ticketverkauf an der Vorkasse. Man saß auf zugeordneten Sitzreihen entsprechend des sozialen Ranges. Die ersten Plätze ganz vorn waren natürlich die Ehrenplätze für die außergewöhnlichen Würdenträger der Stadt. Das sieht man auch am Dionysostheater gleich auf den ersten Blick, denn auf der ersten Sitzreihe hat man nicht nur besonders viel Platz, die Sitze sind außerdem mit Rückenteilen wie Throne gestaltet. Hier sitzt nur die Crème de la Crème, die VIPs Athens. Das Privileg, in der ersten Reihe zu sitzen wurde vom Stadtrat bestimmt: Hier saßen nur die reichsten Männer in den höchsten Ämtern. Aber wer genau saß in den ersten Reihen des Dionysostheaters?

Die „Reservierungsinschriften“ auf der ersten Reihe zeigen es uns: einige der besten Plätze in der allerersten Reihe sind für Priester bestimmt: ganz links dürfen die Priester (IEREOS ist das griechische Wort für Priester) Demetros und Phenephaites sitzen, daneben geht es mit einer ganzen Reihe anderer Priesternamen weiter. Priester sind Teil der sozialen Elite der Stadt Athen.

Und dies ist überall im Römischen Reich so. Auf dem Friedensaltar in Rom, den der Kaiser Augustus bauen ließ, gibt es ein Fries, auf welchem die Elite der Stadt Rom an einer Opferprozession teilnimmt.

Es sind Priester in würdevoller Toga, welche nach dem Kaiser selbst die Prozession anführen. Ein weiteres Indiz, welche wichtige soziale Stellung mit dem Priesteramt verbunden ist, ist auch daran erkennbar, dass das Amt des Pontifex Maximus, des höchsten Priesters in Rom, ab Kaiser Augustus von allen nachfolgenden Kaisern eingenommen wurde. Die Kaiser hatten eigentlich genügend Ehrentitel, die ihre Macht und ihren Ruhm darstellten, sie waren Augusti („die Erhabenen“); Imperatoren („siegreiche Feldherren“), Principes civitatis („die ersten Bürger“) etc., aber ein Titel durfte zur Selbstdarstellung nicht fehlen: Pontifex maximus. Zu hoch war die Würde und die Ehre, die mit diesem Amt und Titel einherging, als dass man sie einem anderen überlassen konnte.

Kaiser Augustus (links) dargestellt als Priester. In einer typischen Pose für einen Priester, der opfert, wird er mit hochgeschlagener Toga und zur Opferpose ausgestrecktem Arm wiedergegeben. Archäologisches Museum Korinth.

Welches soziale Prestige es mit sich brachte, Priester zu sein, wird auch dadurch deutlich, dass viele Priesterämter in der Antike Würdenpositionen waren, die erkauft wurden, das heißt, der Anwärter erkaufte sich das Recht (zumeist vorher festgelegte hohe Summen, gelegentlich auch durch das Prinzips des Meistbietenden), Priester der entsprechenden Gottheit für einen gewissen Zeitraum zu sein.

Kaufvertrag für das Priestertum der Aphrodite Pandamos und Pontia auf der Insel Kos. Text der Inschrift und Übersetzung bei http://cgrn.ulg.ac.be/file/220/.

Ein Edikt des Prokonsuls der Provinz Asien, Paulus Fabius Persicus (44 n. Chr.) illustriert treffend, wie begehrt es war, eine Priesterwürde für sich selbst oder Angehörige zu kaufen. Der Prokonsul beschwert sich in einer Inschrift (IEph. 17), dass die Finanzverwaltung des Tempels der Artemis, die Würde und den Respekt des Priesteramtes missbraucht, um sich unrechtmäßig zu bereichern:

„… sie verkaufen die Priesterämter wie auf einer Versteigerung und rufen zu ihrem Kauf Menschen aller Art zusammen, und dann wählen sie auch nicht diejenigen aus, die es am ehesten verdienen, dass man ihnen den Kranz aufs Haupt setzt. Einkünfte teilen sie den amtierenden Priestern zu, so viele die Empfänger haben wollen, damit sie sich selbst möglich viel aneignen können…“

Gleich mehrere Indizien zeigen das enorme Privileg des Priesterseins auf: Das Priesteramt wird als „Kranz auf dem Haupt“ beschrieben. Das Priesteramt in der Antike hat also innewohnend die Idee der Ehre, welches der Kranz symbolisiert. Das Priesteramt sollte normalerweise verdienten, würdigen Personen zuteil werden und reiche Menschen waren willens, Unsummen an Geld auszugeben, um sich das Vorrecht des Priesteramtes zu erkaufen.

Mit dem antiken Verständnis, dass Priestersein ein enormes Privileg war, weil es an höchste soziale Stellung geknüpft war, fällt es uns nun leichter, ehrfürchtig beeindruckt davon zu sein, dass Christus uns zu Priestern des lebendigen Gottes gemacht hat. Es ist eine unvorstellbare Ehrung, die uns damit völlig unverdient zuteil wird.

Die gesellschaftliche Assoziation, das Vorrecht, Priester sein zu dürfen, ist jedoch nur ein Aspekt der Frage, warum „ein Priester Gottes“ zu sein, reichlich Grund für Doxologien ist. Es bleibt noch die Frage: Was macht einen Priester im Kern aus, welche Funktionen hat er, mit denen der Begriff „Priester“ in der Offenbarung gefüllt ist?

Die Formulierung von Johannes „uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater“ greift auf eine zentrale Verheißung des Alten Testamentes zurück. Dort wurde dem Volk Israel beim festlichen Bundesschluss zu Sinai als größte Verheißung zugesprochen: „ihr sollt aus allen Völkern mein Eigentum sein; denn mir gehört die ganze Erde. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation sein“ (2 Mose 19,6). Die Ehrung „ihr sollt meine Priester sein“ wird auch in Jesaja 61,6 versprochen. Von der Struktur her befindet sich dieser Vers im zweiten Lied des Dieners in Jesaja (Jes 61,1-7), Christus bezieht diese Stelle in Lukas 4 auf sich und die Erfüllung der Verheißung wird (wie hier in der Offenbarung deutlich wird) auf die christliche Gemeinde, die aus gläubigen Juden und gläubigen Heiden besteht, bezogen.

Das alttestamentliche Israel war nur im Ansatz tatsächlich das verheißene Königreich von Priestern. Die alttestamentlichen Propheten beschuldigen Israel, diese Berufung aufgrund des ständigen Bruches der Bundesbeziehung niemals wirklich erfüllt zu haben (Bsp. Jes 40-52). Was in 2 Mose 19 noch zukünftige Hoffnung war („ihr sollt ein königliches Priestertum sein“), ist durch das Werk von Christus in der Gemeinde zur Realität geworden („hat zu Königtum, zu Priestern gemacht“). Gott hat uns in Christus zu seinem geliebten Volk gemacht und uns zu königlichen Priestern privilegiert. Die unfassbare Wucht des Ausmaßes, was es bedeutet, Priester Gottes zu sein, werden wir in diesem Leben wahrscheinlich nicht so recht erfassen können. In der Offenbarung gibt es eine Fortführung des Themas „Könige und Priester“. In Offb 1,5-5 werden Menschen durch das Werk von Christus zu Königen und Priestern gemacht – sie sind es schon von ihrer Position her, aber noch nicht in ihrer offenkundigen Erfahrung. In Offb 5,10 wird die Vorfreude darüber ausgedrückt, dass die zu Christus-Gehörenden ihre Position als Könige und Priester in der Zukunft ausüben werden („und hast sie unserem Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden über die Erde herrschen!“). Erst wenn der Christ stirbt und seine Seele in die Gegenwart Gottes kommt, wird er das, was einen Priester auszeichnet, auch erfahren („Glückselig und heilig, wer teilhat an der ersten Auferstehung! Über diese hat der zweite Tod keine Macht, sondern sie werden Priester Gottes und des Christus sein und mit ihm herrschen tausend Jahre„, Offb 22,6). Die Offenbarung scheint zu beschreiben, dass es bereits eine tatsächliche Einsetzung der Heiligen als Könige und Priester gegeben hat – Christus hat sie zu diesen bereits gemacht (Offb 1,5-6). Aber die an die Doppelsubstantive geknüpften Verben, von dem was Könige und Priester machen (wovon nur ein Verb explizit genannt ist, nämlich regieren), werden in die Zukunft redigiert: Regieren kommt später und damit kommt das, was Priester machen, auch erst später.

Die zentrale Idee, was einen Priester in der Offenbarung ausmacht, scheint als die kostbare Idee „Zugang zu Gott“ definiert zu sein. Vielleicht gibt es in anderen Büchern der Bibel auch Nuancen, Mittler (im Sinne von Repräsentant/ Botschafter) von Gott zu sein, aber hier in der Offenbarung scheint letzterer Aspekt vernachlässigbar zu sein. Im Vordergrund steht ganz klar das Privileg des Christen, freien und direkten Zugang zur faszinierenden Gegenwart Gottes zu haben. Der Priester ist Gott nah. Dieses Versprechen ist der Höhepunkt der Offenbarung, was Gott in der ewigen Zukunft für uns vorbereitet hat: Gottes Nähe. Eine Metapher nach der anderen wird aus der Schatzkiste alttestamentlicher Verheißungen geholt, um ein Hauptthema vorauszusagen: Die von Christus Erkauften werden Gott nah sein. „Das Zelt Gottes ist bei den Menschen“ (Offb 21,3); „Gott wird bei ihnen wohnen“ (Offb 21,3); Gott wird sein Volk so nah genießen wie ein Bräutigam seine Braut (Offb 21,9); Jerusalem „hat die Herrlichkeit Gottes“ (Offb 21,11), die ganze Stadt ist das Allerheiligste Gottes (Offb 21,15-17). Eine Bildersprache nach der anderen konzentriert sich auf dieses eine Thema: Gottes Gegenwart und Herrlichkeit ist den Heiligen nah. Auch das Bild des Priesters greift diese Idee auf: Das Besondere daran, Priester zu sein wird definiert durch die Fähigkeit, der gewaltigen Gegenwart Gottes nah zu sein.

Und wenn wir jetzt immer noch nicht in anbetender Ehrfurcht stehen, dann liegt das einzig und allein daran, dass wir keine Ahnung haben, wie angenehm Gott ist. Wenn wir wüssten, über welche Wucht an Attraktivität wir sprechen, würde die Idee „Priester nahe dieses exzellenten Gottes zu sein“ bei uns auch Doxologien auslösen.

Um zumindest annäherungsweise ein Konzept in Worte zu fassen, wie einzigartig herrlich Gott ist, hat mir Jonathan Edwards sehr geholfen, indem er schreibt:

Gott übertrifft in unendlicher Weise in grandioser Attraktivität und brillianter Vollendung jegliches Geschöpf… (Sermons and Discourses 1720-23 „God‘s Excellenencies“)

Um sich an die unvorstellbare Schönheit Gottes (Edwards Lieblingswort für die Beschreibung Gottes ist beauty, ein Wort welches im Englischen viel besser als im Deutschen die Faszination Gottes beschreibt) heranzutasten, geht Edwards in Vergleichen vor. Er fragt dich „stell dir das Angenehmste vor, was es in dieser Welt gibt“. Das hübsche Gesicht deiner Braut, wenn sie mit einem goldenen Lächeln zum Altar geführt wird, um dich zu heiraten? Traumhafte Landschaften, in denen wuchtige Berge mit herrlich grünen Pinien an himmelblaues Meer und weiße Strände heranreichen? Dazu eine kühle Brise frischer Meeresluft gemischt mit dem Kräuterduft der Berge? Gott übertrifft in seiner angenehmen Schönheit, seiner grandiosen Attraktivität jegliche Erfahrung dieser Welt. Wie sehr übertrifft er sie? Verdoppelt er sie? Ist er zehnfach so attraktiv und angenehm? Millionenfach? Edwards überzeugt, wenn er behauptet, dass das Schönste dieser Welt von dem, wer Gott ist, unendlich (!) übertroffen wird.

Und diesem grandios attraktivem Gott dürfen wir als Priester so nah sein wie kein anderes Geschöpf. Der Genuss, Priester zu sein, ist auf dieser Seite der Ewigkeit nur andeutungsweise vorstellbar, aber ein vollkommen nachvollziehbarer Grund, warum ein Mensch in Doxologien ausbricht, wenn er erahnt, was es bedeutet, als Priester diesem Gott nah zu sein.


Beitrag veröffentlicht

in

,

von

Schlagwörter: