Gladiatoren hackten in der Arena nicht wild aufeinander ein. Es gab klare Regeln, nach welchen Taktiken die jeweiligen Waffengattungen kämpfen sollten. Offizielle Schiedsrichter überwachten die Kämpfe. Dies waren die summa rudis (Hauptschiedsrichter) und secunda rudis (Zweiter Schiedsrichter). Beide waren mit weißen Tuniken gekleidet, die mit purpurnen Streifen versehen waren. Sie trugen einen langen Stab, mit dem sie ein Foul aus sicherer Distanz anzeigen konnten. Wahrscheinlich waren sie auch dafür zuständig zu überwachen, dass Gladiatoren sich während des Kampfes nicht ernsthaft verletzen – denn auf Leben und Tod wurde seltenst gekämpft.
Eine Abbildung eines solchen Schiedsrichters inmitten von kämpfenden Gladiatoren findet man zum Beispiel auf einem Mosaik in den Ruinen der westlichen Ausgrabungen auf Kos. Ein anderer Schiedsrichter aus Thessaloniki, ein secunda rudis, wurde auf einem Sarkophag von seiner Frau verewigt – wir kennen seinen Namen und haben ein (zugegebenermaßen etwas verwittertes) Abbild von ihm: es ist Nepotianus Amyntianus. Dieser zweite Schiedsrichter gibt uns einen wertvollen Hinweis, wie die Endzeitrede von Jesus in Matthäus 24 zu verstehen ist.
Matthäus präsentiert uns in seinem Evangelium Jesus als den rechtmäßigen König Jerusalems. Die herrschenden Eliten in Jerusalem weigern sich jedoch, den verheißenen König anzuerkennen. Ganz im Gegenteil, sie entschließen sich, den in Jerusalem symbolhaft eingezogenen kommenden Herrscher (Mt 21,1-11) zu bekämpfen und ihn umzubringen. Dass dies für seine Feinde letztenendes nicht gutgehen wird, hatte Jesus bereits im Gleichnis der Weingärtner (Mt 21) vorhergesagt. Dass seinen Feinden die sichere Zerstörung droht, symbolisiert Jesus später durch die Verfluchung des Feigenbaums, die sogenannte „Tempelreinigung“ in Matthäus 21 und durch klare Vorhersagen, dass Jerusalem und der Tempel untergehen werden (Mt 23,38).
Die Jünger von Jesus können sich eine Zerstörung des Tempels und einen Untergang der mit ihm assoziierten Machthaber erst einmal nicht vorstellen. Wenn so etwas passieren würde, dann höchstens am Ende aller Zeiten, wenn Christus wiederkommt und eine neue Welt schafft. Deshalb fragen sie Jesus in Mt 24,3 wann alle diese Dinge (das heißt die Zerstörung des Tempels) und das Ende der Zeit anbrechen wird und ob es Zeichen gibt, an denen man erkennt, dass das Ende des Tempels und das Ende der Zeit nahe sind. Die lange Antwort von Jesus scheint für den heutigen Leser oft verwirrend: Auf der einen Seite scheint es Zeichen für das Ende der Welt zu geben: Kriege, Erdbeben, Hungersnöte (Mt 24,1-7); die Verkündigung des Evangeliums in aller Welt (Mt 24,14), andererseits verneint Jesus kategorisch, dass das Ende des Zeitalters und seine Wiederkunft auch nur andeutungsweise vorhergesehen werden können. Es gibt definitiv kein Zeichen (Mt 24,36)! Also was denn jetzt? Gibt es Zeichen, an denen man ablesen kann, wann die Wiederkunft von Jesus nahe rückt oder nicht?
An dieser Stelle hilft uns der zweite Schiedsrichter Nepotianus Amyntianus die Schwierigkeit des Textes zu entschlüsseln. Auf seiner Inschrift steht nämlich ein Wort, welches für Matthäus 24 ganz wichtig ist: oikoumenees (weltweit)! Der erhaltene Text der Inschrift lautet folgendermaßen.
Abgesehen davon, dass seine Frau wirklich in Nepotianus Amyntianus verliebt war – sie nennt ihn den süßesten Ehegatten – war Nepotianus höchstwahrscheinlich einer der großen Schiedsrichter seiner Zeit. Er wirkte in vielen Städten des Römischen Reiches und erwarb sich einen internationalen Ruf. Sein weltweiter Ruhm wird mit dem Wort oikoumenees beschrieben. Kein damaliger Leser der Inschrift würde auf den Gedanken kommen, dass Nepotianus weltweit im engsten Sinne des Wortes unterwegs war, um Gladiatorenkämpfe zu moderieren. Er war mit Sicherheit nicht im Reich der Parther, noch in Germanien unterwegs und erst recht nicht in China. Wahrscheinlich hat er Spanien, Syrien oder Ägypten (allesamt Teil des Römischen Reiches) nie gesehen und konnte dennoch als Mann weltweiten Ruhmes beschrieben werden, weil die Menschen in der Antike etwas anderes unter oikoumenee verstanden, als wir. „Weltweit“ ist zu antiken Zeiten nicht präzise definiert: Es kann einerseits tatsächlich die ganze Welt bedeuten (Apg 17,31) oder andererseits „nur“ die Territorien des Römischen Reiches umfassen (Lk 2,1; Apg 11,28) oder einfach nur ein gewisses Gebiet über die jeweiligen Provinzialgrenzen hinaus beschreiben. Wir wissen nicht wirklich, wie weit Nepotianus gereist ist, aber wenn er neben Mazedonien noch in Achaia, Asien, Italien und Gallien Schiedsrichter war, dann war er außergewöhnlich weltweit (oikoumenee) berühmt.
Paulus verwendet Synonyme von oikoumenee („auf der ganzen Welt“) in demselben Sinn wie die Frau des Nepotianus auf der Inschrift ihres geliebten Ehemanns. Bereits ca. 61 nach Christus, als Paulus an die Kolosser schreibt, behauptet er, dass das Evangelium auf der ganzen Welt (hier: en panti too kosmoo) verkündet worden ist (Kol 1,6). Schon 57 bis 58 nach Christus, als der Römerbrief verfasst wird, dankt Paulus, dass der Glaube der Römer weltweit (en holoo too kosmoo) bekannt geworden ist (Röm 1,8) – und das, obwohl eine Missionsreise zum gar nicht so weit entfernten Spanien noch ein Zukunftstraum war (Röm 15,24-28).
Das „weltweit“ auf der Inschrift des Nepotianus Amyntianus gibt uns also einen Hinweis, wie die „weltweite Verkündigung des Evangeliums“ in Mt 24,14 zu verstehen sein kann. Es muss keine Prophetie auf noch zukünftige Entwicklungen sein, sondern Jesus meint damit viel eher den ersten dynamischen Zeitraum der Kirchengeschichte, in welchem sich das Evangelium recht rasch im Römischen Reich ausbreitete. „Weltweit“ in Matthäus 24 ist aus unserer Sicht nicht Zukunft, sondern beschreibt was noch vor 70 nach Christus, dem Jahr der Zerstörung des Tempels, passiert ist.
Jetzt wird auch klar, warum Jesus alle Vorhersagen von Mt 24,3-34 beschreibt, da sie innerhalb der Lebenszeit der Jünger passieren: „Wahrlich, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen ist.“ Jedes Mal, wenn in den Evangelien „diese Generation“ vorkommt, bezieht es sich auf die Zeitgenossen von Jesus (Mt 11,16; 12,41,42,45; 23,36); hätte Jesus eine andere Generation im Blick gehabt, hätte er dies mit „jene Generation“ (gr. genea toutee) beschrieben.
Unser Gladiatorenschiedsrichter hilft uns zu entdecken, wie Jesus seine Endzeitrede strukturiert. Bis zum Vers 35 geht es nämlich überhaupt nicht um das Ende der Welt, sondern um das Ende des Jerusalemer Tempels. Das war ja die ursprüngliche Frage der Jünger: wann wird der Tempel zerstört werden (Mt 24,2-3)? In den Gedanken der Jünger war „Zerstörung des Tempels“ und „Ende der Zeit, wenn Jesus wieder kommt“ ein zusammengehöriges Ereignis. Jesus berichtigt die Jünger jedoch: das Ende des Jerusalemer Tempels und das Ende der Zeit haben nichts miteinander zu tun.
Bleibt nur noch die Frage der Zeichen. Gibt es Zeichen, die das Ende des Tempels ankündigen? Gibt es Zeichen, welche die Wiederkunft von Jesus ankündigen? Jesus beantwortet diese Frage, indem er seine Endzeitrede in drei Teile teilt.
In den Versen 4 bis 14 wird definiert, was KEINE Anzeichen für die Zerstörung des Tempels sind. In diesem Abschnitt wiederholt Jesus, dass das Ende des Tempels und damit das ganze System der jüdischen Machthaber zerstört werden wird (Vers 14), aber das alle aufgeführten Ereignisse keine Hinweise auf das Nahen der Zerstörung des Tempels sind – und ebenso keine Hinweise auf seine Wiederkunft am Ende der Zeit. Die Jünger sollen sich durch falsche messianische Bewegungen und kriegerische Unruhen nicht verrückt machen lassen. Egal, wie turbulent die Jahre sein werden, die Jünger sollen sich darauf fokussieren, das Evangelium zu verbreiten – der auferstandene Christus wird selbst dafür sorgen, dass dies „weltweit“ gelingt.
In den Versen 15 bis 35 beschreibt Jesus das eine und einzige Anzeichen für die Zerstörung des Tempels. In diesem Abschnitt erklärt Jesus, was das eine Zeichen für die Zerstörung des Tempels ist und außerdem, dass das Zeichen ein Kriegsgeschehen einläutet, das so katastrophal sein wird, dass keine nationale Hoffnung für Jerusalem auf ein Überleben oder gar einen Sieg besteht. Die Sprache in diesen Versen ist angelehnt an die apokalyptische Sprache der alttestamentlichen Propheten. Auch wenn der moderne Leser manchmal denkt, dass die Ereignisse doch zukünftig sein müssten, ein Blick ins Alte Testament zeigt, dass man hyperbolisch so sprechen kann, auch ohne das Ende der Zeit im Blick zu haben. So sind die kosmischen Katastrophenerzählungen, dass die Sonne verfinstert wird, Sterne vom Himmel fallen, etc. (Mt 24,29) keine astronomischen Tatsachenberichte, sondern symbolhafte Beschreibungen für politische und militärische Umwälzungen (Jes 13,10; 34,4; Joel 2,10). Der Sohn des Menschen, der mit den Wolken des Himmels, mit Kraft und großer Herrlichkeit kommt (Mt 24,30), ist keine Beschreibung der Wiederkunft von Jesus am Ende der Welt, sondern ein Zitat aus Daniel 7,13-14, welches beschreibt, dass der Messias von Gott dem Vater Autorität bekommt, ein ewiges Reich zu bauen, welches das seiner Feinde zerstört. Die Zerstörung von Jerusalem 70 nach Christus, welche in diesen Versen beschrieben wird, ist Indiz dafür, dass Jesus von Gott dem Vater die Macht bekommen hat, sein Reich zu bauen und dass er seine Macht ausübt, indem er seine Feinde zerstört.
Erst ab Vers 35 greift Jesus die Frage der Endzeit zum ersten Mal auf. Die Frage nach Zeichen wird jetzt glasklar festgenagelt: Es gibt null Anzeichen für die Wiederkunft von Christus. Die einzige Möglichkeit, nicht von seiner Wiederkunft überrascht zu werden (im Sinne von „ertappt, Böses zu tun“), ist Christus allezeit treu zu dienen (Mt 24,36 – 25,30). Dank der Ehefrau des Schiedsrichter Nepotianus Amyntianus haben wir einen neuen Blick, was „weltweit“ in antikem Denken bedeutet und Matthäus 24 erscheint in neuem Licht. Die ersten 34 Verse haben sich bereits erfüllt.
Ein Blick auf ein Foto von Jerusalem mit dem berühmten Blick vom Ölberg zur Altstadt zeigt, dass seit fast zweitausend Jahren noch nicht mal Ruinen vom jüdischen Tempel übrig geblieben sind. Die Westmauer ist nur ein Teil der Stützmauer, welche die Ebene abstützte, auf der der Tempel stand. Der abwesende Tempel ist für die Christen seitdem ein starkes Zeichen, dass Jesus wirklich auferstanden ist. Er, der Sohn des Menschen aus Daniel 7, hat von Gott dem Vater Macht bekommen, ein ewiges Reich zu bauen. Er hat vorausgesagt, dass er seine Macht benutzen wird, um den Tempel zu zerstören und so ist es gekommen. Der zweite Teil der Verheißung, dass Jesus wiederkommt, wird sich auch erfüllen und deshalb dienen Christen ihrem Herrn hingebungsvoll, egal wie kurz oder lang es noch sein wird, bis er kommt.