Entdeckungen im Kolosserbrief Teil 4: Kol. 1, 15-17

Im letzten Blog über Kolosser 1, 9-14 haben wir gesehen, dass das Hintergrundproblem, welches Paulus dazu motivierte, den Kolosserbrief zu schreiben, eine Zuversichtskrise der Christen in Kolossä war, und zwar ob (im Angesicht des Disputs mit Juden) ihr Glauben an Christus allein genug ist, um in Ewigkeit Gottes Herrlichkeit und Nähe im Himmel zu genießen. Paulus beantwortet diese Krise indem er hauptsächlich Symbolsprache aus dem Erb-Recht benutzt, um aufzuzeigen, dass die Kolosser bereits in Christus qualifiziert worden sind für ein himmlisches Erbe.

Kolosser 1, 15-18 ist die Fortführung des Gebets in Kol. 1, 9-14. Obwohl im Deutschen ein neuer Satz in Vers 15 anfängt, zeigt im Griechischen das Pronomen „welcher“ (Gr. hoos), (also wortwörtlich übersetzt: …der Sohn, den er liebt, in welchem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden, welcher das Ebenbild des lebendigen Gottes ist…), dass der bereits in Vers 9 angefangene Satz auch in Vers 15 weitergeführt wird (und bis zu Vers 20 geht).

Die Verse 15 bis 20 sind also noch immer Inhalt des Dankes der Kolosser, welches in Vers 12 angeführt wird („dem Vater danksagend, der…“) – wenn wir also in den folgenden Versen über die Vorrangstellung von Christus lesen, dann ist der Inhalt der folgenden „Hymne“ immer noch Teil der Danksagung, welche die Kolosser Gott darbringen – sie danken in den folgenden Versen Gott dafür, wer Christus für sie ist. Aber erst mal zum eigentlichen Text:

Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene über alle Schöpfung -16 denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: alles ist durch ihn und für ihn geschaffen; 17 und er ist vor allem, und alles besteht durch ihn – 18 und er ist das Kopf des Leibes, der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem den Vorrang habe…

Kolosser 1, 15-18 (meine Übersetzung)

Auch wenn wertvolle Hinweise zu Details die Wirkung des „Christus-Hymnus“ von Paulus noch deutlicher werden lassen können, ist die Passage als ganzes relativ leicht zu verstehen. Selbst bei kurzem Lesen der Zeilen wird deutlich, dass die Aneinanderreihung von Eigenschaften oder Taten von Christus die Vorrangstellung des Sohnes Gottes deutlich machen soll. Vorrangstellung bedeutet, dass die erhobene Stellung, die große Würde und Majestät, die strahlende Pracht und Herrlichkeit des erhöhten Christus anschaulich gemacht werden soll.

Nun sollte jeder aufmerksame Leser des Neuen Testaments sich nicht damit zufrieden geben, wenn er sich ein Bild davon gemacht hat, was Paulus inhaltlich schreibt, sondern um den Text wirklich zu verstehen, muss der Leser auch fragen, warum (!!!) Paulus an dieser Stelle diesen Inhalt aufgeschrieben hat.

Der Inhalt hat eine rhetorische Funktion, welcher das Hauptargument des Briefes unterstützt. Wie dieses einzelne Teil zur Logik des Argumentationsflusses beiträgt ist die wichtigste Aufgabe des Exegeten.

Dieser muss sich also fragen, wie eine Beschreibung der Vorrangstellung von Christus die Idee des Kolosserbriefes unterstützt, durch Christus allein zu einem gewaltigen Erbe qualifiziert worden zu sein. Dies ist schnell einleuchtend, denn es ist mühelos logisch nachvollziehbar, dass unsere völlige Abhängigkeit von Seiner überragenden Fähigkeit Seine erhabene Stellung als erhöhter Geber deutlich werden lässt.

In gleicher Weise lässt sich das Argument auch rückwärts verfolgen: wenn Christus als eine bis aufs äußerste erhöhte Person dargestellt wird, lässt sich daraus schlussfolgern, dass Er genug ist für meine Qualifizierung zum Erbe durch Ihn. Was man in der Englischen Sprache fast schon poetisch mit supremacy reveals sufficiency ausdrücken kann, muss im Deutschen vielleicht etwas umständlicher, aber ebenso treffend ausgedrückt werden mit „der Grad der Erhabenheit impliziert den Grad der Genügsamkeit“.

Um die Logik des Paulus durchgehend zu verstehen, sind einige Kommentare zu den einzelnen Versen an dieser Stelle doch angebracht.

Vers 15: Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene über alle Schöpfung…

Im ersten Teil seines Hymne beschreibt Paulus die Erhabenheit gegenüber der Schöpfung. Christus ist nicht Teil der Schöpfung, sondern steht genau wie der Schöpfer erhaben über ihr. Christus ist „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ – in Christus haben wir also eine sichtbare und exakte Repräsentation des sonst unsichtbaren Gottes. Die Idee ist hier, dass Christus in ganzer Fülle und allen Teilen Gott perfekt sichtbar widerspiegelt. Wie in Griechischer Philosophie gedanklich üblich, besitzt ein Bild Anteil an der unsichtbaren Realität und offenbart die Natur dieser Realität. Christus ist in jeglicher Hinsicht also Gott gleich und bringt Klarheit in unsere anderweitig verschwommene Vorstellung, wer Gott ist.

Er ist „der Erstgeborene über alle Schöpfung“. Der aufmerksame Leser hat sicher schon gemerkt, dass ich den sonst üblichen ausgabenorientierten Übersetzungen „Erstgeborener aller Schöpfung“ die Präposition „über“ eingefügt habe. Ich hoffe dadurch nicht den eigentlichen Text zu entstellen, sondern die ursprüngliche Bedeutung klar werden zu lassen. Der Terminus „Erstgeborener“ (Gr. proototokos) ist nicht im Sinne der ersten Geburt zu verstehen, sondern es ist ein Titel des Ranges, welcher nicht notwendigerweise etwas mit Geburt oder der Rangfolge der Geburt zu tun haben muss. In Psalm 89, 27 LXX finden wir dieses Griechische Wort als einen erhaben Titel Souveränen Ranges: „So will ich auch ihn zum Erstgeborenen (Gr. proototokos) machen – zum höchsten der Könige der Erde.“ Der typische Parallelismus Hebräischer Poesie zeigt schön, was Erstgeborener bedeutet: „Höchster der Könige“ – eine Stellung erhabenen Ranges. Diese Metapher setzt also Christus als Erhabener von aller Schöpfung ab. Der Genitiv „Erstgeborener der Schöpfung“ drückt dabei nicht einen Genetiv des Teils aus, also nicht „der erste Teil von der Schöpfung“, sondern ist ein Genitiv der Subordination „der Erstgeborene – erhöht über alle Schöpfung“.

Vers 16 …denn in Ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: alles ist durch Ihn und für Ihn geschaffen…

Kolosser 1, 16 erklärt, warum Christus über alle Schöpfung hoch erhöht ist: aufgrund seiner Präexistenz ist Christus nicht Teil der Schöpfung, auch nicht der erste Teil, sondern Er ist der Urheber aller (!) Schöpfung. Mithilfe von drei Präpositionen wird das Verhältnis von Christus zur Schöpfung dargestellt: alles wurde in Ihm (Gr. en), durch Ihn (Gr. dia) und für Ihn (Gr. eis) geschaffen. „In Ihm geschaffen“ bedeutet, dass Christus „der Ort“ (bzw. die Person) war, von dem aus alle Schöpfung ausging. „Durch Ihn“ geschaffen zeigt, dass er derjenige war, der wirkte und mit seinem Wirken die Schöpfung in Existenz brachte. „Für Ihn“ zeigt in typisch Biblischem Denken, dass die Schöpfung nicht für sich existiert, sondern für eine größere Bestimmung – und zwar um Christus durch seine Existenz zu verherrlichen und für Ihn als Schöpfer da zu sein. Sowohl die Bedeutung „für Ihn“ als auch die Tatsache, dass die Schöpfung ultimativ nur für den Allmächtigen Schöpfer existieren kann wird deutlich, wenn wir die ähnlichen Worte des Paulus in Römer 11, 33-36 ansehen, die dort Gott den Vater beschreiben: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege! 34 Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? 35 Oder wer hat ihm vorher gegeben, und es wird ihm vergolten werden? 36 Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge! Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.“

Alle Dinge, bereits durch den definitiven Artikel ta im Griechischen als die Totalität wirklich aller Dinge ausgedrückt, wird nun durch zwei jeweils gegensätzliche Wortpaare ausgedrückt, die damit einen Merismus bilden: Himmel und Erde; sichtbar und unsichtbar. Ein Merismus benutzt dabei extreme gegensätzliche Positionen, um Totaliät auszudrücken: „Gott wird gelobt im Osten und Westen“, bedeutet nicht nur in China und Amerika, sondern überall, was was zwischen Osten und Westen liegt: alles eben.

Die Unsichtbaren Wesen, die Christus ebenso geschafften hat, werden dann ebenfalls in einer 4-fachen Weise aufgeführt: Throne, Herrschaften, Gewalten, Mächte. Egal, ob diese Mächte gut oder böse sind, Christus thront majestätisch hoch über allen und alle, selbst die uns unsichtbaren übernatürlichen Wesen existieren durch Ihn und für Ihn.

Vers 17: …und Er ist vor allem, und alles besteht durch Ihn…

Der abschließende Satzteil des ersten Stücks der Christushymne fasst die vorherigen Ausführungen mit einer erneuten Bekräftigung zusammen: er ist vor allem. „Vor“ (Gr. proto) hat hier hauptsächlich die Bedeutung einer Vorrangstellung des Ranges. Er ist vor allem, indem er in Ehre, Würde und Majestät alle andere in unendlichem Maße übertrifft. „Alles besteht durch ihn“ wiederholt nicht die bereits angesprochene Tatsache, dass Christus alles geschaffen hat, sondern geht noch einen Schritt weiter: alle Schöpfung ist abhängig von Ihm für die weitere Existenz. Gott hat die Welt nicht wie im Deistischen Weltbild erschaffen und dann seiner Selbstexistenz mit Hilfe unabhängiger Naturgesetzte und –Konstantanten überlassen. Gott hat nicht einfach die Dinge in Gang gesetzt und hat sich dann zurück gezogen. Christus erhält weiter aktiv die Schöpfung – sowohl die materielle als auch geistige. Aber der Vers sagt sogar noch mehr als dass Christus die Kraft ist, welche die Ordnung des Kosmos erhält – „erhält“ (Gr. sunisteemi) beschreibt, dass die ganze sichtbare und unsichtbare Schöpfung ihre Existenz in Ihm hat – also nicht nur als Aufrechterhalter, sondern als Grund, als Ziel, als Bedeutung. Alles lebt durch und für Ihn – selbst diejenigen, die sich vormachen, in Rebellion unabhängig und gegen die Ziele von Christus zu wirken existieren in Seiner Souveränen Regentschaft ultimativ für Ihn. Kein Geschöpft ist autonom. Alle sind seine Diener, alle sind abhängig und finden ihren Sinn, ihre Bedeutung in einem grandiosen Plan, in exzellentem Design und Souveräner Regentschaft in Ihm.

Höher in Bedeutung, Rang und Würde als in den letzten Zeilen von Paulus beschrieben geht nicht. In diesen Zeilen finden wir ultimative Superiorität und Überlegenheit. Die Erhabenheit von Christus sprengt jegliche menschliche Vorstellungskraft. Und genau dieser hoch Erhöhte und exzellente Erhabene ist (wie wir in den nächsten Versen sehen werden) der Erlöser und Retter der Kolosser.

Seine exzellente Vorrangstellung hat Auswirkungen auf die Art, wie Christus rettet. Wenn er den Vorrang von Christus in der Schöpfung sehen, erwarten wir die gleiche Vorrangstellung in Erlösung. Auch dort wird Er hoch erhöht als einziger im Zentrum stehen und alle Ehre bekommen. Kein Wunder, dass Er allein verantwortlich ist für das Erreichen eines himmlischen Erbes der Heiligen. Auch in dieser Hinsicht werden wir vollkommen von Ihm abhängig sein und Er wird für Erlösung und Rettung genug sein. In Ihm werden die Kolosser und wir alles finden, was wir benötigen.

Und genau diese Vorrangstellung des Christus im Hinblick auf Erlösung hatte Paulus im Sinn als er in Kol. 1, 9 gebetet hatte, dass wir mit der Erkenntnis seines Willen erfüllt mögen werden – es ist der Wille Gottes Christus zu erhöhen und in der Erlösung Ihm die Vorrangstellung zukommen zu lassen. Durch Christus und Christus allein sind wir zu einem gewaltigen Erbe qualifiziert worden – diese Art zu handeln schenkt „allen Beteiligten“ genau das, was Gott will: wir bekommen in Christus unvorstellbaren Reichtum und Christus bekommt durch unsere manifeste und komplette Abhängigkeit von Ihm den Ruhm und die Vorrangstellung, die Ihm gebührt!

Diese Erkenntnis (für welche Paulus intensiv betet) wird die Kolosser aus ihrer Zuversichtskrise holen, in welcher sie sich noch fragen, ob Christus genug ist. Er ist genug – schon allein deshalb weil Gott um CHRISTUS willen, Ihn als genug darstellt, damit Er in allen Dingen – Schöpfung und Erlösung die Vorrangstellung bekommt, die Seiner erhabenen und grandiosen Natur zusteht.

Bis zu den nächsten Versen … soli deo gloria!


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