Das Buch mit den sieben Siegeln ist gar kein Buch mit sieben Siegeln!

Der Kaiser Claudius sitzt auf einem Thron und hält wie in Offenbarung 5 beschrieben eine Buchrolle in seiner rechten Hand. Archäologisches Nationalmuseum Neapel.

„Das ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln“ ist ein bekanntes deutsches Sprichwort, welches wir verwenden, um auszudrücken, dass uns etwas rätselhaft, unverständlich oder so kompliziert ist, dass wir den Durchblick komplett verlieren. Das Sprichwort hat sich wahrscheinlich aus dem Bild in der Offenbarung heraus entwickelt, wo Gott der Vater eine Buchrolle mit sieben Siegeln in der Hand hält, welches niemand außer Jesus Christus öffnen und lesen kann. Aus dem Text „und niemand … war in der Lage, das Buch zu öffnen, oder es anzuschauen“ (Off. 4, 3) hat sich der Hintergrund der Redensart entwickelt „ich kann das Buch nicht lesen“, also „ich habe keinen Durchblick“, „keine Ahnung“.

Nun ist es jedoch so, dass sich unser deutsches Sprichwort nach vielen Jahrhunderten aus dem Biblischen Text entwickelt hat, es ist jedoch keine Hilfe zum Verständnis, was das Buch mit den sieben Siegeln in der Offenbarung bedeutet. Würden man unser heutiges Sprichwort nehmen, um den Text der Apokalypse des Johannes zu erklären, wäre das ein exegetischer Fehler der „anachronistische Bedeutungszuweisung“. Dieses komplizierte Fachwort lässt sich recht leicht erklären. Ich bin ein Fan von Dynamo Dresden (ja, ich weiss, wir spielen in der dritten Liga). Der Fußballclub hat seinen Namen von dem griechischen Wort dunamis („Kraft“). Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Jesus, als er sagte, dass er mit „großer dunamis und Herrlichkeit kommen wird“ an Fußball gedacht hat! Auch wenn wir, wenn wir vom Buch mit den sieben Siegeln in der Offenbarung lesen, intuitiv daran denken, dass es sich wohl um ein geheimnisvolles Buch handeln muss, dessen Inhalt durch Jesus Christus bekannt gemacht wird, liegen wir mit unserer Vermutung falsch.

Das Buch mit den sieben Siegeln ist nämlich gar kein Buch mit sieben Siegeln. Zumindest nicht in dem sprichwörtlichen Sinn, dass es sich um ein geheimes Dokument handelt. Zu verstehen, was es mit den sieben Siegeln auf sich hat, hilft uns unter anderem eine tragische Begebenheit in der Antike.

Agora von Pella, Geburtsstadt von Phillip II und Alexander dem Großen

In der Stadt Pella in Mazedonien, der Geburtsstadt von Alexander dem Großen, gab es im südwestlichen Teil der Agora, also dem zentralen Marktplatz, ein zweistöckiges öffentliches Archiv. Dieses wurde durch einen Brand teilweise zerstört und stürzte ein.

Als Archäologen die Überreste des Archivs ausgruben, entdeckten sie eine Vielzahl von Tonsiegeln. Diese wurden durch den Brand gehärtet und blieben dadurch erhalten und sind nun im Archäologischen Museum Pella ausgestellt.

Eines der Tonsiegel aus Pella

Die Siegel illustrieren bildlich, was wir schon durch antike Literatur kannten: Siegel dienten in der Antike nur in seltenen Fällen der Geheimhaltung. Für private Briefe konnten Siegel verwendet werden, um sicher zu gehen, dass wenn der Brief versiegelt zugestellt wurde, nur der Empfänger den Inhalt kennt. Dokumente mir mehreren Siegeln waren jedoch nicht privat, sondern Teil des öffentlichen Lebens und wurden versiegelt, nicht um Dokumente geheim zu halten, sondern um ihre Echtheit zu garantieren. Die Siegel aus dem Archiv von Pella waren dienten nicht dem Zweck, Dokumente geheim zu halten. Schließlich befinden wir uns in einem öffentlichen Archiv und keinem Ort der Geheimhaltung.

Wenn es nicht um Geheimhaltung geht, wofür steht das Buch mit den sieben Siegeln in der Offenbarung?

Hier ist zuerst der Text aus Offenbarung 5, um den es geht:

Und ich sah in der Rechten dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, innen und auf der Rückseite beschrieben, mit sieben Siegeln versiegelt. 2 Und ich sah einen starken Engel, der mit lauter Stimme ausrief: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu brechen? 3 Und niemand in dem Himmel, noch auf der Erde, noch unter der Erde konnte das Buch öffnen noch es anblicken. 4 Und ich weinte sehr, weil niemand würdig erfunden wurde, das Buch zu öffnen noch es anzublicken. 5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, um das Buch und seine sieben Siegel zu öffnen. (Offb. 5, 1-5)

Der erste Vers beschreibt, dass der allmächtige Gott auf dem Thron ein Buch, im damaligen Verständnis eine Schriftrolle in der rechten Hand hält. Dieses Bild ist für antike Leser ganz und gar nicht ungewöhnlich. Überall in der Griechisch-Römischen Welt standen Statuen von würdevollen Männern, die Schriftrollen in ihren Händen hielten.

In Toga gekleideter Römer mit Schriftrolle in rechter Hand. Vatikanische Museen Rom.

Diese Statuen bildeten hohe Magistraten oder den Kaiser ab. Die Schriftrollen stellen in dem meisten Fällen Dekret-Rollen dar, also Schriftstücke auf denen die autoritative Gesetzgebung des Amtsinhabers zum Ausdruck gebracht werden soll. Ein Mann mit Schriftrolle in der Hand symbolisiert in der Antike Macht und Einfluss. Er bestimmt, was Gesetz, Recht und Ordnung ist. Er hat hier das Sagen. Genau diese Assoziationen schwingen mit, wenn wir in Offenbarung 5 zuerst von dem Allmächtigen auf dem Thron mit einer Schriftrolle in seiner Hand hören. Das Bild vermittelt ein Gefühl von Autorität und Macht. Der Weltenbeherrscher regiert unangefochten mit souveräner Macht.

Die Schriftrolle in Offenbarung 5 weist jedoch zwei Besonderheiten auf: Sie ist innen und außen beschrieben und mit sieben Siegeln versiegelt. Ein Mensch, der von solch einer versiegelten Schriftrolle im ersten Jahrhundert hört, weiß sofort, um was es sich in diesem Fall handelt. Versiegelte Schriftrollen sind in der Antike hauptsächlich Archivdokumente, welche offizielle Transaktionen beurkunden: Heirat, Scheidung, Vollmachten, Erbschaftsdokumente, Geschäftsverträge, Besitzurkunden, Gerichtsbeschlüsse, etc. An der Anzahl der Siegel kann man die Art des Dokuments ablesen. Nur welche Dokumente wurden mit sieben Siegeln versiegelt?

Römischer Bürger in Toga gekleidet mit Buchrolle in seiner linken Hand und Siegelring am Ringfinger. Archäologisches Museum der Ausgrabungsstelle Pompeii.

Sieben Siegel sind typisch im Griechisch/ Römischen Recht des ersten Jahrhunderts für Erbschaftsdokumente. Eine geregelte Erbschaftsfolge war den Römern sehr wichtig. Ungefähr 60 bis 70% aller Rechtstreitigkeiten hatten entstanden aus Problemen im Zusammenhang mit Erbschaft. Die Römische Gesellschaft war dynamisch mit einer hohen Sterberate und einem schnellen Generationenwechsel. Römer hassten es, ohne Testament zu sterben, weil damit ja nicht nur die Aufteilung des Erbes, sondern die Weiterführung des Familienruhmes unklar war und unter Umständen Landbesitz unwirtschaftlich aufgeteilt oder verkauft werden musste. Reiche Römer verfassten deshalb ihr Testament recht zeitig und setzten im Laufe ihres Lebens neue Testamente auf.[1] Wenn das Testament aus formellen oder rechtlichen Gründen Fehler aufwies, stand es in Gefahr, gänzlich ungültig zu werden. Man legte deshalb großen Wert darauf, Testamente an Formregeln anzupassen. Schon im ersten Jahrhundert vor Christus galt deshalb der durchgängige Brauch, Erbschaftsdokumente aufzusetzen und von sieben Zeugen versiegeln zu lassen. So schreibt zum Beispiel Gaius in seinen Institutionen:

„Doch verspricht der Praetor, wenn ein Testament mit sieben Zeugensiegeln gesiegelt ist, dem im Testament eingesetzten Erben den Nachlassbesitz gemäß der Testamentsurkunde, wenn niemand vorhanden ist, dem die Erbschaft ohne Testament nach gesetzlichem Recht gehört…“ (Inst. Gaius II.119.).

Siegelring mit Abdruck. Archäologisches Nationalmuseum Athen.

Siegel waren bei den Römern ein lang benutztes Mittel der Beglaubigung von Dokumenten und dienten der Sicherung von Urkunden gegen Fälschungen![2] Geheimhaltung stand bei Versiegelung nur bei privaten Zwecken im Vordergrund, es war nicht die wichtigste Aufgabe von Siegeln. Die Urkunden wurden nicht untersiegelt, sondern versiegelt, die Siegel dienten hauptsächlichst als Beweis für die Authentizität der Urkunde und als Mittel, den Zeugen später anhand seines Siegelzeichens wieder ausfindig zu machen. Das Siegel war als Gemme auf einem Ring festgemacht, welches der römische Bürger am Ringfinger der linken Hand trug – nicht als Zierde, sondern seiner Funktion willen. 

Wenn ein Römer sein Testament rechtsgültig verfassen wollte, schrieb er also seinen Willen auf eine Wachstafel, außerhalb von Rom verwendete man Papyrusrollen.[3] Dann rief er sieben vertrauenswürdige Freunde zu sich und las ihnen den Inhalt des Testaments vor. Anschließend wurde ein Bindfaden durch Löcher im Dokument gezogen und die Schriftrolle damit verschlossen. Am Ende der Bindfäden setzten dann die sieben Zeugen ihr Siegel. Es war ein ziemlicher Aufwand, sieben Zeugen für ein Testament bereit zu stellen. Alle sieben mussten nämlich nach dem Tod des Testators wieder zusammen kommen, und die Echtheit ihres Siegels vor einem Magistraten bezeugen. Warum wählte man also sieben und nicht nur drei oder vier, um den Prozess der Vererbung zu vereinfachen? Die Antwort liegt darin, wie sich der Brauch der testamentarischen Erbfolge im römischen Recht entwickelt hat. Ursprünglich wurden Testamente in Rom nämlich vor der ganzen Volksversammlung gemacht. Testamente waren ein öffentlicher Akt, der durch die Anwesenheit einer breiten Öffentlichkeit rechtssicher gemacht werden sollte. An diese Tradition knüpft die Anzahl von sieben Zeugen an. Sie stehen symbolisch und praktisch für eine breite Öffentlichkeit, so dass ein Rechtsmangel, zum Beispiel durch einen Formfehler, ausgeschlossen wird, welcher in der relativ großen Gesellschaft von sieben Zeugen schnell bewusst geworden wäre.[4]

Auch der Ausdruck „innen und außen beschrieben“ lässt sich vor dem Hintergrund der Testamentsverfassung erklären. Ein „doppelseitig“ beschriebenes Dokument ist ein stereotypisches Merkmal antiker Erbdokumente. Elisabeth E. Meyer erklärt in ihrem Buch Legitimacy and Law in the Roman World die Praxis der Doppelbeschriftung.[5]

Erstellung eines doppelseitig beschriebenen Erbschaftsdokuments. Skizze 9 in Elisabeth A. Meyer, Legitimacy and Law in the Roman World.

Auf Papyrusrollen wurde der Wille des Testators zwei mal aufgeschrieben. Exakt derselbe Text wurde in zwei großen Blöcken auf dem Papyrus doppelt verfasst. Ein Block wurde eingerollt. Dann wurde das Testament an der „Knickstelle“ mit sieben Löchern durchbrochen und der schon beschriebene Bindfaden durchgezogen und versiegelt. Somit war der „innere“ Text des Dokumentes nicht mehr lesbar, aber dennoch nicht unbekannt. Der äußere Text nämlich, der mit dem inneren Text identisch war oder zumindest eine Zusammenfassung des inneren Textes darstellte, war weiterhin sichtbar. Somit konnte der Inhalt des Erbdokuments jederzeit eingesehen werden. Der äußere Text war vor Manipulation nicht geschützt, jederzeit hätte man durch Radierungen und Überschreibungen ändern können. Aber genau für diesen Fall war der innere, identische Text versiegelt. Bei einer Testamentseröffnung konnten nämlich beide Texte miteinander verglichen werden und wenn sie übereinstimmten als authentisch deklariert werden.

Replik eines antiken doppelseitig beschriebenen und mit sieben Siegeln versiegeltes Erbschaftsdokuments.

Bevor wir uns die technischen Details der Testamentseröffnung ansehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass im Zentrum des Testaments der WILLE des Testators steht![6]Der Hauptzweck des Testaments bestand darin, einen Erben einzusetzen![7] Genau dies ist die Botschaft des ersten Verses von Offenbarung 5. Der souverän regierende Schöpfer des Himmels und der Erde, der im Alten Testament einen „Thronerben“ (Psalm 2; 110; Daniel 7) versprochen hat, will diesen Erben, der die Welt regieren wird und ein ewiges Reich bauen wird, einsetzen. In den nächsten Versen wird dann nach einem würdigen Kandidaten gesucht.

Doch noch einmal zurück zu den antiken Hintergründen, wie eine Testamentseröffnung damals stattfand.

Im klassischen Recht durfte man weder über das Testament, noch über die Erbschaft verfügen, bis die Urkunde eröffnet und eingesehen worden war.[8] Nach der Testamentsanfertigung hat der Testator die tabulae (die Wachstafeln) bzw. die Papyrusrollen einem Freund (oft einem der Zeugen) zur Aufbewahrung gegeben und ihm den Auftrag erteilt, für die Eröffnung des Testaments oder die Aushändigung an den Erben zu sorgen. Testamente wurden weiterhin in Tempelarchiven zur Aufbewahrung hinterlegt und vielleicht auch in öffentliche Archive. Nach dem Tod des Testators wurden die Zeugen der Testamentsverfassung zusammengerufen, um die Echtheit des Testaments (insbesondere der Siegel) zu bestätigen. Besaß ein potentieller Erbe ein Testament, konnte er die Urkunde ungeöffnet dem Prätor vorlegen und diesen zur Apertur auffordern.[9]

Vor dem Magistraten sollten dann alle Zeugen die Echtheit ihrer Siegel anerkennen. Es mussten mindestens die Mehrzahl der Zeugen anwesend sein. Abwesenden Zeugen, die in größerer Distanz lebten, wurden die eröffneten Siegel im Nachhinein zur Bestätigung zugeschickt. Waren die meisten Zeugen abwesend, wurden ihnen zuerst das geschlossene Dokument zugesandt und erst nach Bestätigung wurde es eröffnet. 

„Nachdem sich die Zeugen, die Interessenten und die notwendigen Amtspersonen in dem Gerichtslokal, d.h. auf dem Forum oder der Basilika des Ortes, wo die Testamentseröffnung stattfand, eingefunden hatten, begann der feierliche Akt der Testamentseröffnung.“[10]

Die Zeugen erkannten ihre Siegel an, der Faden (Lat. linium) wurde zuerst durchgeschnitten und dann die Siegel gebrochen, die Urkunde eröffnet und vorgelesen.[11] 

Nach Verlesung des Testaments wurde eine Abschrift der Urkunde angefertigt, die ursprüngliche Testamentsurkunde wurde demjenigen ausgehändigt, der den größten Teil des Erbvermögens erbte. Außerdem wurde ein Protokoll der Gerichtsverhandlung erstellt. Durch die Eröffnung des Testaments wurden sämtliche Vermächtnisse erworben, welche mit dem Testament in Verbindung standen.[12] Der Erbe hatte, wenn er dies wollte, eine Frist von 100 Tagen ab Testamentseröffnung, in welchem er abwägen und entscheiden konnte, ob er die Erbfolge antritt. 

Zugeständnis von Rechten in einem von sieben Zeugen versiegeltem doppelseitigem Erbdokument. Das Dokument ist datiert auf den 19. Juni 130 n.Chr. Am oberen Rand sieht man deutlich die noch verschlossene Siegelrolle mit den intakten Bindfäden, welche den inneren Text schützen, der äußere Text ist darunter sichtbar. Babatha Papyri Nr. 20.[13]

Die Schriftrolle in der Offenbarung

Die Schriftrolle in der Offenbarung ist ohne Zweifel vor dem Hintergrund säkularer Verhältnisse in Kleinasien als Erbdokument zu verstehen. So argumentiert auch Greg Beale,[14] der wichtige Strukturelle Verbindungen zwischen dem Buch Daniel und der Offenbarung aufzeigt. Er beobachtet nicht weniger als 14 Elemente aus Dan. 7, 9-27, die bis auf eine Ausnahme in der gleichen Reihenfolge in Offb. 4 – 5 erscheinen. So gibt es:

1. Einführende Phraseologie bezüglich der Vision (in Dan. 7, 9 und Offb. 4, 1);

2. die Beschreibung eines Thrones im Himmel (in Dan. 7, 9a und Offb. 4, 2a-4, 4a);

3. die Aussage, dass Gott auf dem Thron sitzt (in Dan. 7, 9b und Offb. 4, 2b);

4. Gottes Aussehen auf dem Thron wird beschrieben (in Dan. 7, 9c und Offb. 4, 3a);

5. Feuer vor dem Thron (in Dan. 7, 9d-10 und Offb. 4, 5);

6. Himmlische Diener um den Thron (in Dan. 7, 10 und Offb. 4, 4-10; 5, 8, 11, 15);

7. Bücher vor dem Thron (in Dan. 7, 10c und Offb. 5, 2-5, 9);

8. Bücher, die geöffnet werden (in Dan. 7, 10d und Offb. 5, 11);

9. eine Göttliche Messianische Figur kommt zum Thron, um Autorität zu erhalten, ein Reich zu regieren (in Daniel 7, 13-14 und Offb. 5, 5-7, 9, 12-13);

10. Umfang des Reiches wird beschreiben („alle Völker, Nationen, Sprachen“) (in Dan. 7, 14a und Offb. 5, 9b);

11. die Reaktion des Visionärs: Eine tiefe Trauer des Sehers (in Dan. 7, 15 und Offb. 5, 4);

12. Der Visionär erhält himmlischen Rat bezüglich der Vision von einem der Dieners des Thrones (in Dan. 7, 16 und Offb. 5, 5);

13. Die Heiligen empfangen Autorität, über ein Reich zu herrschen (in Dan. 7, 18-22 und Offb. 5, 5); 14. Abschließende Bemerkung über Gottes ewige Regentschaft (in Dan. 7, 27b und Offb. 5, 13-14).

Es ist eindeutig, dass Johannes die Offenbarung 4-5 aus der Perspektive von Daniel 7 sehen will insbesondere Daniel 7, 13-14:

„Ich schaute in Gesichten der Nacht: und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. Und er kam zu dem Alten an Tagen, und man brachte ihn vor ihn. 14 Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, und sein Königtum so, daß es nicht zerstört wird.“

Was bei Daniel 7, 13-14 noch zukünftige Vision war, nämlich dass „der Menschensohn“ eine ewige Regentschaft von Gott dem Vater empfangen wird und damit sein Reich baut und seine Feinde zerstört, ist in Offenbarung 5 erfüllt. Offenbarung 5 beinhaltet exakt das gleiche Thema wie Daniel 7, nur aus einer anderen zeitlichen Perspektive. Es schaut nun zurück auf das Opfer von Christus am Kreuz und seine Auferstehung und sieht darin eine siegreiche Inthronisierung des Christus.

Der Kern von Offenbarung 5 besteht darin, dass ein Erbe empfangen wird, nicht, dass Dinge geoffenbart worden sind. Ganz im Gegenteil: Offenbarung 5 ist die Erfüllung davon, was immer wieder von Gott dem Vater vorhergesagt wurde, dass sein Sohn das messianische Erbe antreten wird (2 Sam. 7; Psalmen 2, 110; Jes. 7-12). Dass der Messias von Gott als Weltregent eingesetzt wird ist kein Geheimnis. Es ist nicht neu und auch nicht verborgen oder geheim und schon gar nicht rätselhaft oder unverständlich. Das Buch mit den sieben Siegeln ist kein Buch mit sieben Siegeln im Sinne des heutigen Sprichwortes. Es ist ein Dokument, welches die Einsetzung eines Erben zur Weltherrschaft beschreibt.

G. B. Caird argumentiert entsprechend überzeugend, dass „der Inhalt der Schriftrolle Gottes Erlösungsplan ist, der sich im Alten Testament andeutet und mit dem Gott seine Souveränität über eine sündige Welt behauptet und so den Zweck der Schöpfung erreichen will. Johannes beginnt den gesamten Ablauf dieses Plans von seinen Anfängen am Kreuz (Offenbarung 5) bis zu seinem triumphalen Höhepunkt im neuen Jerusalem (Offenbarung 21-22) nachzuzeichnen“.[15] Die Schriftrolle enthält den Inhalt, den Verlauf und die Vollendung der Geschichte, wie die Dinge sowohl für Christen als auch für Nichtchristen enden werden (vgl. Ps. 139, 16).

Die Schriftrolle mit den sieben Siegeln ist also am besten zu verstehen als ein Erbdokument, welches die Autorität beinhaltet, Souveränität über den Kosmos zu erlangen, um sowohl Erlösung als auch Gericht darin auszuüben. Dass Erlösung Teil des Erbes ist, wird klar von dem folgenden Hymnus in Offb. 5, 9-10 „Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du bist geschlachtet worden und hast durch dein Blut für Gott erkauft aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation 10 und hast sie unserem Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden über die Erde herrschen!“ Der parallele spätere Hymnus in Offb. 5, 12 beschreibt dann die generelle Regentschaft des Lammes über den Kosmos (ähnlich wie bereits dem auf dem Thron sitzende Gott diese Attribute zugeschrieben wurden (Offb. 4, 11)): „Würdig ist das Lamm, das geschlachtet worden ist, zu empfangen die Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Lobpreis.“

Wer ist würdig den Inhalt der Schriftrolle für sich in Anspruch zu nehmen?

Ein himmlischer Sprecher adressiert in Offenbarung 5, 2 den gesamten Kosmos und fragt, wer würdig ist, bzw. die Autorität hat, vorzutreten und die Rolle zu öffnen und die Siegel zu brechen. Die eigenartige Formulierung: 1. Öffne die Rolle und 2. Breche die Siegel (man erwartet die umgekehrte Reihenfolge) ist nicht signifikant und wahrscheinlich eine Art Hendiadys. Die Hauptaussage ist: Wer kann die Rolle in Besitz nehmen und den Inhalt für dich in Anspruch nehmen? Die gesamte Schöpfung im Himmel und auf der Erde steht regungslos und sprachlos da. Als von Gott eingesetzter Erbe und Regent kommt kein Geschöpf in Frage. Der Begriff „würdig“ bedeutet nicht einfach „würdig“, sondern „qualifiziert“ in dem Sinne, dass er die richtige Qualifikation für diese besondere Aufgabe hat. Der Zweck des Öffnens der Schriftrolle ist nicht, dass sie gelesen werden kann, sondern dass die eschatologischen Ereignisse beginnen können. Das Erbe muss empfangen und umgesetzt werden. 

Johannes ist im Vers 4 tief betrübt. Es scheint, als ob niemand in der Lage ist, die Geschichte zu ihrem vorbestimmten Ende zu bringen.

Im Vers 5 kommt dann die glückliche Wendung. Es wird jemand vorgestellt, welcher die Qualifikation hat, die souveräne Herrschaft über die Geschichte als Erbe zu empfangen. Jedoch wird kein Name genannt, sondern zwei Beschreibungen aus Prophezeiungen des Alten Testaments: Der „Löwe Judas“ und „die Wurzel Davids“. Beide Metaphern verheißen eine messianische Figur mit Herrschaftsattributen.

Der Begriff „Löwe aus dem Stamm Juda“ kommt aus 1 Mose 49, 9-10: „Juda ist ein junger Löwe; vom Raub, mein Sohn, bist du hochgekommen. Er kauert, er lagert sich wie ein Löwe und wie eine Löwin. Wer will ihn aufreizen? 10 Nicht weicht das Zepter von Juda, noch der Herrscherstab zwischen seinen Füßen weg, bis dass der Schilo kommt, dem gehört der Gehorsam der Völker.“

Das Bild von der Wurzel Davids kommt aus Jesaja 11, 1-10: „Und ein Spross wird hervorgehen aus dem Stumpf Isais, und ein Schössling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen. 2 Und auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN… er wird die Geringen richten in Gerechtigkeit und die Elenden des Landes zurechtweisen in Geradheit. Und er wird den Gewalttätigen schlagen mit dem Stab seines Mundes und mit dem Hauch seiner Lippen den Gottlosen töten. 5 Gerechtigkeit wird der Schurz seiner Hüften sein und die Treue der Schurz seiner Lenden…10 Und an jenem Tag wird es geschehen: der Wurzelspross Isais, der als Feldzeichen der Völker dasteht, nach ihm werden die Nationen fragen; und seine Ruhestätte wird Herrlichkeit sein.“

Die beiden Metaphern wurden von dem Ältesten, der in Offb. 5, 5 spricht, nicht unwillkürlich ausgesucht. Es war nicht so, dass er aus dem Topf hunderter messianischer Verheißungen einfach nur so gegriffen hat und „Löwe Judas“ und „Wurzel Davids“ zufälligerweise gezogen wurden. Die beiden Metaphern wurden absichtlich aufgrund ihrer „herrschenden“ und „erbenden“ Elemente ausgewählt.

Beide Metaphern sind königlich und verheißen eine messianische Figur, welche die Feinde Gottes durch Gericht besiegen werden und die königliche Herrschaft antreten werden. Wir müssen uns daran erinnern, dass „überwinden“ in „das Lamm hat überwunden“ (gr. nikaoo) eine militärische Nuance hat: Das Lamm hat gesiegt und befindet sich in einem Zustand der Unbesiegbarkeit. Nikaoo dient als Einführung in die Alttestamentlichen Titel „Löwe Judas“ und „Wurzel Davids“ und bringt ihre „Eroberungs“-Bedeutung zum Vorschein! Denn beide Titel prophezeien eine messianische Figur, welche seine Feinde durch Gericht besiegen wird. Indem Christus seine Feinde besiegt hat, ist er zu einer souveränen Position gelangt, welche es ihm ermöglicht, durch souveräne Herrschaft Gottes Plan der Erlösung und des Gerichts umzusetzen – genau das, was durch die Öffnung des Erbdokuments symbolisiert wird.[16]  


[1] Éva Jakab, „Inheritance“ in The Oxford Handbook of Roman Law and Society. Ed. Du Plessis, Adno, Tuori. Oxford, 2020, 498-99. Ausführliche Argumentationen bezüglich der Testamente mit 7 Siegel finden sich auch in W. Smith, Dictionary of Greek and Roman Antiquities, 961-63. McKenzie, Studies in Roman Law, 279. Stauffer, Christ and the Ceasars, 182-83.

[2] Barry Nicholas, An Introduction to Roman Law. Oxford, 1962, 255: „The presence of the witnesses and the signatures serve to authenticate the document…”

[3] Elisabeth Meyer, Legitimacy and Law in the Roman World. Cambridge, 2006, 9.

[4] Barry Nicholas, An Introduction to Roman Law. Oxford, 1962, 256.

[5] Elisabeth Meyer, Legitimacy and Law in the Roman World. Cambridge, 2006, 189.

[6] Enrico Nisoli, Die Testamentseröffnung im Römischen Recht. Bern, 1949, 40.

[7] Barry Nicholas, An Introduction to Roman Law. Oxford, 1962, 257.

[8] Enrico Nisoli, Die Testamentseröffnung im Römischen Recht. Bern, 1949, 15.

[9] Enrico Nisoli, Die Testamentseröffnung im Römischen Recht. Bern, 1949, 47.

[10] Ibid., 54.

[11] Ibid., 56.

[12] Ibid., 61.

[13] Naphtali Lews, Ed. The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters. Greek Papyri. Babatha Papyri Nr. 20 S. 88-93, Photo von Platte 23.

[14] Greg Beale, The Book of Revelation (NIGTC). Grand Rapids, 2013, 344-46. Beale beruft sich auf Daniel 8, 26 und 12, 4 um zu behaupten, dass die Siegel eine wenigstens teilweise Geheimhaltung des Dokuments beinhalten. Es sprechen jedoch mehrere Gründe dagegen, dass die Siegel in Offb. 5 eine „Geheimhaltungsfunktion“ hatten: 1.) Obwohl wir in Daniel 8; 12 und Jes. 29, 11 Siegel vor uns haben, welche der Geheimhaltung bzw. Verhinderung der Erfüllung bis zur festgesetzten Zeit vor uns haben, muss diese Funktion der Siegel nicht in Offb. 5 übernommen worden sein. In Daniel und Hesekiel haben wir kein Erbdokument, sondern einen privaten Brief im Blick. 2.) Siegel in Erbdokumenten stehen nicht für Geheimhaltung, sondern dienen als Echtheitszertifikator für das Dokument. Die Tatsache, dass das Dokument bewusst als „doppelseitig beschrieben“ erklärt wird, zeigt, dass der Inhalt des Dokuments auch vor Siegelbrechung einsichtbar, also schon offenbart war. 3.) Die Anzahl der Siegel (sieben) steht im säkularen Umfeld für Öffentlichkeit. Die Versiegler kennen den Inhalt des Dokuments, es ist ihnen nicht geheim. Die 7 Zeugen stehen symbolisch für eine breite Bandbreite an öffentlicher Darlegung. Nun können im metaphorischen Gebrauch von Bildern Einzelheiten in den Hintergrund treten, nicht Teil der kommunizierten Gedanken sein oder auch kreativ umgedeutet werden (z.B. Tod des Testators = Tod des Christus, der ja Testamentserbe ist). Es ist jedoch etwas anderes, wenn der ursprüngliche Sinn der Metapher ins Gegenteil umgedeutet werden soll. Dies ist mit der Verwendung von Bildersprache nicht mehr vorzustellen. Wir würden auch nicht Metaphern wie z.B. „da ist Sand im Getriebe“ dafür benutzen, dass etwas sehr gut läuft oder „es ist fünf vor zwölf“ sagen, wenn wir ausdrücken wollen, dass noch viel Zeit vorhanden ist. 4.) Offenbarung 5 transportiert nicht die Botschaft von Daniel 8 oder 12 oder Jes. 29. Es transportiert die Botschaft von Daniel 7. Siehe Beale… Elemente der Kontinuität von Daniel 7 und Offb. 4-5. Der Kern von Daniel 7 ist die Botschaft des Erbens eines ewigen Reiches durch den Menschensohn: „Und er kam zu dem Alten an Tagen, und man brachte ihn vor ihn. 14 Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, und sein Königtum so, dass es nicht zerstört wird.“ (Dan. 7, 13-14).Der Kern von Offenbarung 5 besteht darin, dass ein Erbe empfangen wird, nicht, dass Dinge geoffenbart worden sind. Ganz im Gegenteil: Offenbarung 5 ist die Erfüllung davon, was immer wieder von Gott dem Vater vorhergesagt wurde, dass sein Sohn das messianische Erbe antreten wird (Psalmen 2, 110; König, Diener, gesalbter Eroberer in Jes. 7-12; 40-55; 56-63).

[15] G.B. Caird, The Revelation of Saint John the Divine (BNTC). Edinburgh, 1966, 72. Klammern als Erklärung von mir hinzugefügt.

[16] Greg Beale, The Book of Revelation (NIGTC). Grand Rapids, 2013, 349-50.


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